Erstellt am: 13. 1. 2016 - 17:29 Uhr
The daily Blumenau. Wednesday Edition, 13-01-16.
#medienpolitik #demokratiepolitik #selfie
The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.
2016 wieder regelmäßig.
Wenn dem moralischen Anspruch den inneren Old Shatterhand ins wirkliche Leben zu integrieren das Zerrbild des "Gutmenschen" entgegengehalten wird, ist eine Gesellschaft verloren. Auch wenn sie lässige Musik mag. Denn über den richtigen Griff zu "guter" Musik definiert sich 2016 nichts mehr.
Die Trennung von Musik und gesellschaftspolitischen Inhalten
Nicht dass es derlei nicht auch schon früher (und irgendwie immer) gegeben hätte. Nur: es nimmt zu, es verengt Pupillen, Denk- und Spielräume zunehmend. Und verunsichert Ungefestigte.
Etwa bei den Social Media-Äußerungen des Radiosenders FM4, auf dessen Seite du dich gerade aufhältst. Wird dort eine Ankündigung, eine kleine Geschichte oder ein Link gepostet, der ein gesellschaftspolitisches Thema zum Inhalt hat (und es müssen nicht die Flüchtlinge oder gender equality-Fragen sein, es reichen auch Hinweise auf z.B. fehlende Verteilungsgerechtigkeit oder anderes, von kaum jemand ernsthaft Beeinspruchbares - sofort kommt zumindest eine Äußerung, deren Kern-Botschaft so lautet: "Lass mich mit dem Gutmenschen-Gesülze in Frieden und spiel die gute Musik; wegen der bin ich da."
Zu allermeist sind es bundesdeutsche Reaktionen (erkennt man u.a. an der übermäßigen Verwendung des Begriffs "Mucke"), aber auch hier hat sich die Verteilung verlagert.
Der automatische Rückschluss auf die Haltung fällt weg
"Früher" wäre das nicht möglich gewesen.
"Früher" hat sich gesellschaftliche Grundhaltung über die Musik definiert. Sag mir was du hörst, und ich sage dir wer du bist.
Denn: böse Menschen haben keine Lieder; und wenn, dann schlechte.
Das gilt schon seit vielen Jahren nicht mehr. Es galt aber noch nie so stark wie heute. Auch wenn z.B. ein Andreas Gabalier mit seinem offensiven Blut&Boden-Populismus stark am Gegenteil, an einer Segregation arbeitet.
Es ist nicht mehr nur so, dass sich Anhänger von sehr weißen oder sehr autoritätshörigen, potentiell also immer schon gefährdeten Jugendkulturen (Goth, Oi, einzelne Metal- und Techno-Spielarten etc.) immer weiter aus dem Konsens-Bogen der Lasst-Tausend-Blumen-Blühen-Freizügigkeit der verstreuten Subkulturen zurückziehen; es sind zunehmend Fans von avancierter Popmusik, die die gesellschaftspolitisch eindeutige Positionierung der Macher als notwendiges Übel abtun.
Was die grundsätzliche Ausrichtung von FM4 als Abbilder dieser Szenen und einer dahinterstehenden weltoffenen Haltung automatisch in Frage stellt.
Man kann Fan sein, ohne das Idol inhaltlich zur Kenntnis zu nehmen
Um das auf andere Idole jenseits der (FM4-)Musik umzulegen: die Mehrheit der heimischen Hirscher- oder Alaba-Fans verehrt diese Idole nicht weil, sondern obwohl sie sich mit klaren Haltungen einmischen, für Integration und Willkommenskultur einstehen. Man kann heute Fan eines Musik- oder Sportidols sein, ohne dessen Engagement überhaupt zur Kenntnis nehmen zu müssen.
Man kann heute Fan von Radiohead, Arcade Fire, Kendrick Lamar und Deichkind, von Bilderbuch und Wanda, von Dylan und Bowie, vielleicht sogar von Tocotronic sein und zugleich ein Nationalist, der am liebsten die Menschenrechts-Konvention außer Kraft setzen will. Die Sicherheit, dass mit einer bestimmten Liebe zu bestimmter Musik eine grundsätzliche Geisteshaltung einhergeht ist zu einem Minderheiten-Phänomen geschrumpft.
Musik wird als Accessoire, als Schmuck mitgeführt, ohne Statement-Charakter ohne Anspruch auf Haltungsbildung.
Haltungsschäden, die eine ganze Gesellschaft verkrüppeln
Das Lebensziel ein guter Mensch zu werden existiert nur mehr außerhalb des deutschen Sprachraums. Dort kann etwa ein Tom Hardy noch seinem Wunsch Ausdruck verleihen nach seinem Tod als Now, he was a good man erinnert zu werden.
Die Nachkommen des hollywoodklischeehaften hässlichen Deutschen spalten sich über diese Frage in zwei Lager (und haben in dieser Debatte die ohnehin mitbetroffenen Österreicher und auch die Schweizer längst mitgenommen): die einen haben mit der Errichtung des Gutmenschen ihre private Abkehr vom Weg der Tätervolk-Buße in eine neonationalistische Renitenz-Haltung gepflastert, die anderen versuchen dem Selbstläufer Einhalt zu gebieten. Mit zunehmend geringerem Erfolg.
Die Umkehr von Opfer- und Täter-Rolle, dem guten Menschen seine moralisch-ethische Kompetenz mit dem Hinweis auf die Ungerechtigkeit des daraus entstehenden (möglichen) Überlegenheitsgefühls und dem Unwohlsein all jener, die sich nicht zu solch einer Haltung durchringen können, abzusprechen, ist der Mount Everest der sprachlichen Bedeutungsumkehrungen der letzten 30 Jahre. Der dadurch entstandene Haltungsschaden verkrüppelt ganze Gesellschaften.