Erstellt am: 15. 1. 2016 - 13:00 Uhr
Making a Mörder-Doku
Habt ihr es auch schon getan? Und mit es, meine ich, alle Termine abgesagt, den Freunden, Kollegen und Verwandten was vorgelogen und euch über zehn Stunden am Stück zu Hause eingesperrt um alle Folgen der Netflix True Crime Doku "Making a Murderer" in einem Stück anzuschauen? Bei vielen war nach den 10 unglaublich spannenden und teilweise schmerzhaften Episoden auch gar nicht Schluss. Es wurden Petitionen unterschrieben, auf eigene Faust recherchiert, Fan Clubs gegründet und Dan Auerbach von den Black Keys hat sogar ein Lied darüber geschrieben.
Netflix
Dass eine Dokumentation - sei es Serie oder Film - so eine riesige Lawine lostritt, und beispielsweise ein neuerliches Aufrollen eines Falls verursacht, passiert gar nicht zum ersten Mal. Und neben dem aufklärerischen Dienst, den die Dokus leisten, kann man sich einreden, dass solche Entwicklungen wett machen, dass man den tragischen Tod einer wirklich echten Person eigentlich nur als Plotpoint einer argen Geschichte wahrgenommen hat.
Was mit OJs Verfolgungsjagd, Aktenzeichen XY ungelöst und miesen halbstündigen Dokus über amerikanische Serienkiller nachts auf RTL2 anfing, ist jetzt auf einem viel anspruchsvolleren Level angekommen. Dokus über Mordfälle sind nicht mehr nur was für die Youtube-Playlist an verkaterten Sonntagen. Hier ein kleines Best Of:
Making A Murderer
Mild Spoiler Alert ab hier!
Die beiden Filmemacherinnen Laura Ricciardi und Moira Demos sind 2005, als sie noch Filmstudentinnen waren, über einen Zeitungsartikel zu Steven Averys neuerlicher Verhaftung gestolpert. Die Geschichte des für 18 Jahre wegen einer Vergewaltigung fälschlich eingesperrten Avery, der nun abermals im selben Örtchen vor Gericht stand, hatte ihr Interesse geweckt. Nur kurz, nach seiner Freilassung und einer Klage auf 36 Millionen Dollar Schadensersatz gegen die County und andere für seine Verurteilung Verantwortlichen, wurde ihm beim zweiten Mal vorgeworfen, die 25-jährige Fotografin Theresa Halbach umgebracht zu haben. Da Ricciardi und Demos das Gefühl hatten, dass auch diesmal etwas an Averys Fall faul war, reisten sie nach Manitowoc, Wisconsin, um über die nächsten zehn Jahre 700 Stunden Material zu filmen, von dem sie lange Zeit nicht einmal wussten, in welcher Form es am Ende gezeigt werden würde.
In den Episoden, die stets mit einem Cliff Hanger so steil und hoch wie der Manitowoc Wasserturm endeten, lernte man Steven Averys Familie, ihren Schrottplatz und die kleine Wisconsiner Gemeinte so intim kennen, als wäre man selbst Teil des Avery Clans. Meistens aus und für die Sichtweise des Beschuldigten. Aber eigentlich kann man das den Filmemacherinnen gar nicht besonders Übel nehmen. "Making a Murderer" ist viel mehr Porträt als Doku. Außerdem weigerten sich Polizei, Staatsanwalt und die Familie des Mordopfers (verständlicher Weise) den Filmemacherinnen Interviews zu geben.
Dass aus dieser Geschichte, die für viele, die den Fall damals im 24 Stunden News Cycle auf Fox, CNN und Co mitbekamen, eine klar einseitige – er war’s fix – Sache war, eine Serie entstanden ist, hatte wahrscheinlich Einiges mit dem Erfolg der nächsten Serie in der Liste zu tun.
The Jinx
Andrew Jareckis sechs Folgen lange Doku, die Anfang 2015 auf HBO lief, dreht sich um den überweirden Robert Durst (keine Verwandtschaft mit Fred), Sohn eines New Yorker Unternehmer-Moguls, der zuerst seine Frau, dann eine Freundin und schließlich seinen Nachbarn – während er als Frau gekleidet, untergetaucht war – ermordet haben soll.
Während "Making a Murderer" aufzeigt, wie ungerecht das US-amerikanische Justizsystem den Armen und Unangepassten gegenüber ist, zeigt uns "The Jinx", das so ein System auch heißt, dass superreiche Arschlöcher tun können, was sie wollen. Der Erfolg von "The Jinx" lässt sich wohl aus der unglaublich unglaublichen Geschichte Dursts, seiner exzentrischen Art und der letzten Folge, die besser nicht gescriptet hätte sein können, ableiten. Und dieser Erfolg war auch wohl der Grund, warum sich Netflix Ende 2015 an "Making a Murderer" heranwagte.
Serial
Bevor wir alle "The Jinx" und "Making a Murderer" geschaut haben, haben wir "Serial" gehört. 16 Folgen lang haben wir Sarah Koenigs NPR Podcast gelauscht, als sie mit ihrer journalistischen Integrität, dem Mord an der Teenagerin Hae Min Lee und mit einem System haderte, das davon überzeugt war, dass ein 17-Jähriger mit pakistanischer Abstammung seine Ex-Freundin einfach so ermordet hatte. Die erste Staffel des Podcasts startete Ende 2014 und dominierte die iTunes Charts bevor und nachdem sie ausgestrahlt wurde. Koenig rollte dabei den Mordfall an Hae Min Lee in Baltimore 1999 auf, für den ihr Ex-Freund Adnan Syed verurteilt wurde und vorläufig lebenslänglich hinter Gittern ist. In den Podcastfolgen wurden Mitschüler, Ermittler und Adnan selbst interviewt, Tathergänge rekonstruiert und die Zuhörer beim emotionalen Tauziehen zwischen "er war’s" und "er war’s nicht" hin und her gerissen.
The Staircase
Etwas langweiliger als die oben genannten Dokus kommt die französische Produktion "The Staircase: Tod auf der Treppe" daher. In acht Kapiteln oder 360 Minuten am Stück (da man in 2004 noch nicht wusste, dass True Crime in Serienform funktionieren kann) begleitet man den Schriftsteller Michael Iver Peterson bei den Vorbereitungen und dem eigentlichen Mordprozess, bei dem ihm vorgeworfen wird, seine Frau umgebracht und den Mord vertuscht zu haben, indem er so tat, als sei sie unglücklich die Treppe runtergefallen. Neben der spannenden Frage, ob man vom Treppen-Runterfallen tatsächlich wie zu Tode geprügelt ausschauen kann, ist "The Staircase" vor allem interessant, weil man hautnah miterlebt, wie es ist, sich um viel Geld ein Team an Experten, Anwälten und Detektiven zu kaufen, diese es aber trotzdem nicht leicht haben, den Fall zu gewinnen. Denn beim Gerichtsverfahren in einer konservativen Gemeinde in North Carolina stellt sich heraus, dass der Angeklagte schwule Army-Pornos am Computer hatte und in den 80ern einen ähnlichen Treppensturz einer Bekannten in Deutschland miterlebte.
Reflexionen über das Justizsystem
Mehr Serientipps auf fm4.orf.at/serien
Ich glaube ja, dass Robert Durst (no na net), Adnan Syed, Michael Iver Peterson und Stephen Avery (oder zumindest einer seiner Brüder) schuldig sind. Trotzdem waren die Dokus zu ihren Fällen extrem spannend, obwohl oder gerade weil, man nie so recht wusste, wem man jetzt glauben kann. Eigentlich funktionieren sie alle am besten, wenn man sie als Möglichkeit zur Reflexion über ein eindeutig fehlbares Rechtsprechungssystem sieht. Und wen die korrupten Cops, voreingenommenen Richter und kleingeistigen Juroren aus den Dokus allzu traurig gemacht haben, dem empfehle ich "12 Angry Men" als Palate Cleanser.