Erstellt am: 19. 1. 2016 - 19:00 Uhr
"VR Chat" - ein unerwartet tiefer Kaninchenbau
Über meine Faszination an sogenannten Multi User Virtual Environments habe ich an dieser Stelle schon öfter geschrieben, etwa anlässlich des zehnten Geburtstages von Second Life. Zwar stellen MUVEs, die sich primär als Plattformen zur gemeinsamen Gestaltung von 3D-Umgebungen verstehen, eine Nische im Sektor interaktiver Unterhaltungssoftware dar. Gerade angesichts der Entwicklung neuer Virtual-Reality-Headsets wie dem Oculus Rift erfährt das Genre derzeit aber wieder mehr allgemeines Interesse.
Christoph Weiss
Kartonbrille auf der Nase
Virtual-Reality-Erlebnisse müssen kein teurer Spaß sein. Mit Google Cardboard (und Varianten) kann man mit fast jedem aktuellen Smartphone in den virtuellen Kaninchenbau springen.
"VR Chat" ist für die Benutzung mit Virtual-Reality-Headsets wie dem Oculus Rift gedacht. Was mir aufgrund ihres Namens zuerst wie eine simple Chatplattform erschien, ist tatsächlich eine komplexe MUVE-Applikation in ihrer frühen Entstehungsphase: Menschen kommen zusammen, erstellen Avatare und errichten 3D-Kontruktionen. Trotz des frühen, unfertigen Zustandes erinnert mich die Anwendung ein bisschen an etablierte Do-it-yourself-Welten wie Second Life und das Hypergrid des Open Simulator - nur eben am aktuellen Stand der Technik. "VR Chat" will ein Baukasten für das Erstellen interaktiver Kunstwerke sein.
Christoph Weiss
Als ich VR Chat das erste mal betrete, treffe ich sofort eine kleine Gruppe von Usern. "Komm", sagt ein Typ mit Baseballkappe. Er läuft voran in eine riesige Halle. Über ihr thront eine gigantische Glaskuppel. Wir steigen eine Wendeltreppe empor. Hinter der dicken Glasscheibe erstreckt sich eine marsähnliche Wüstenlandschaft. Tief unter uns blubbert und perlt eine schwarze Flüssigkeit. Eine Frau ist uns gefolgt und erzählt, dass sie in diesem Teil des Gebäudes noch nie war. Später erfahre ich, dass unsere Begleiterin gern Harfe spielt, Songs komponiert und die Mutter des Herren mit der Baseballkappe ist.
Christoph Weiss
Meine Begleiter öffnen ein hell strahlendes "Portal" und verschwinden darin. Wieder folge ich ihnen und bin plötzlich in einem Raum, der ausschließlich aus bunten, psychedelischen Lichteffekten zu bestehen scheint. Die Orientierung fällt mir schwer, aber ich finde den Eingang zu einem Tunnel - Farben und Lichter auch hier überall.
Christoph Weiss
Ich werde von einer Umgebung zur nächsten geführt: Vorstadtidylle mit Gartenhäuschen und geparkten Autos. Ein Kinderzimmer. Ein mir noch unbekannter Avatar sagt "setz das auf" und zeigt auf einen Helm in einem Bücherregal. Ich klicke darauf und werde abermals in eine andere Welt versetzt.
Christoph Weiss
Ich bin auf einer seltsamen Planetenoberfläche. Eine Gruppe von etwa zehn Avataren hat sich hier versammelt. Einer sieht aus wie Rainbow Dash aus "My Little Pony", ein anderer wie eine Figur aus einem japanischen Rollenspiel. Jemand spricht über die Details der Welt, in der wir uns befinden - er hat sie anscheinend selbst gebaut. Wir klettern einen Turm hoch. Die Aussicht ist beeindruckend - doch mir ist vom Klettern, Springen und Herumlaufen schlecht geworden. Ich bedanke mich bei meinen Touristenführern, verabschiede mich und nehme das VR-Headset ab. Der Raum um mich scheint zu schrumpfen - nach mehr als einer Stunde bin ich wieder in meinem Wohnzimmer in der physischen Welt.
Christoph Weiss
Das schwierigste am Schreiben über aktuelle Virtual-Reality-Headsets ist, dass man ihre Wirkung jemanden, der sie noch nie ausprobiert hat, nur unzureichend beschreiben kann. Denn moderne Geräte wie Oculus Rift und Galaxy Gear VR erzeugen nicht nur den Eindruck einer 360°-Umgebung, in deren Mittelpunkt man sich befindet, sondern sie stellen auch Größenverhältnisse und Entfernungen authentisch dar. MUVE-Plattformen werden aufgrund der Verfügbarkeit dieser Technologie interessanter als je zuvor. Sowohl das kreative Schaffen von Räumen und Avataren, als auch die Entdeckungsreisen durch die von anderen Usern erstellten Umgebungen wirkt intensiver als je zuvor.
Christoph Weiss
Dass mich MUVE-Anwendungen und Spiele, in denen es um das Konstruieren von Gestalten der Umgebung geht, seit einigen Jahren immer stärker ansprechen, liegt wohl auch daran, dass ich des Schießens und Kämpfens in Videospielen überdrüssig geworden bin. Das fiel mir zum Beispiel auch in der bislang besten Weltraumsimulation, Elite: Dangerous, auf - einem Spiel, das man zwar auch als endlosen Dogfight interpretieren und für sich nutzen kann, in dem ich aber lieber auf gemütliche, interstellare Entdeckungsreise gehe. Die Benutzung des Oculus Rift hat meine Tendenz zur gemütlichen Spielweise noch verstärkt.
Christoph Weiss
Angesichts der unerwarteten Tiefe der eigentlich noch unfertigen "VR Chat"-Plattform wird es spannend, wie der Platzhirsch im Bereich der Multi User Virtual Environments in Zukunft vorgeht: "Second Life"-Betreiber Linden Lab hat nämlich bereits vor einigen Monaten eine neue Plattform angekündigt. "Project Sansar" soll - ähnlich wie der "VR Chat" - von Anfang an auf die Benutzung mit dem Oculus Rift ausgerichtet sein. Linden Lab spricht davon, die Gestaltung von Virtual-Reality-Umgebungen für jeden zu ermöglichen und hat diese Idee bei einer Gelegenheit mit dem Slogan "Wordpress for Virtual Reality" beschrieben. Spannende Zeiten für Cyberpunk-Freunde.