Erstellt am: 11. 1. 2016 - 17:11 Uhr
Disconnected: 48 Stunden im Datenland
2016 ist das Jahr der virtuellen Realitäten: Große Technik-Hersteller und Internet-Firmen bringen die ersten VR-Brillen für den Massenmarkt heraus. Aber was bedeutet das eigentlich für uns, wenn wir uns jederzeit in ganz fremde - oder ganz private - Welten zurück ziehen können? Der Berliner Computerkünstler Thorsten S. Wiedemann hat am vergangenen Freitag den Versuch unternommen: Zusammen mit seiner Trip-Sitterin Sara Anna Lisa Vogl (von Lucid Trips) verschwand er für 48 Stunden ganz in der virtuellen Realität). Hier gibt es ein Video der ganzen Aktion.
@felix knoke
Ich fand dieses Experiment aus einem Grund überraschend spannend: Was sind denn die physischen und psychischen Grenzen bei der Nutzung aktueller VR-Systeme? Die Cyberkrankheit (Übelkeit wegen dissonanter Stimulierung des Gleichgewichtsinns) und die Augenschmerzen durch die fehlende Fokussierbarkeit der Bildebenen und das Nackenweh wegen der zu schweren Ausrüstung sind ja noch die langweiligsten Hindernisse. Thorsten wollte vielmehr auch herausfinden, wo er psychisch an ein Ende kommt: Wie ist das mit dem Körpergefühl, wenn man in der Simulation statt Armen mal Stummel, mal Greifer, mal Waffen hat? Wenn man unterhalb der Augen nicht existiert oder ständig seine gefühlte Größe verändert? Wenn man eindrückliche Impulse sieht, die aber keine Auswirkungen auf den Körper haben, wenn man einfach von einer fremden Macht (= der VR-Schamanin Sara Anna Lisa Vog) in eine neue Realität mit eigenem Geltungsbedürfnis verfrachtet wird?
@felix knoke
Ich hatte nicht daran gedacht, dass ausgerechnet das Einschlafen und Aufwachen mit VR-Brille einer der spannendsten Momente sein könnte: Wenn man die Augen öffnet und noch immer den Stoff eines anderen Gehirns vor sich sieht – also aus einem Traum in einem anderen aufwacht. Und das, während man sich jederzeit die Brille vom Kopf reißen könnte, das aber doch nicht tut.
@felix knoke
Und wie war es denn nun? Thorsten S. Wiedemann muss zwar einen Tag nach dem Experiment im Kurzurlaub das Erlebte verdauen, aber er zieht ein positives Fazit: Der erste Tag lief problemlos, erst am zweiten wurde es spannend: Eine Panik-Attacke in der 25. Stunden führte ihn beinahe zum Abbruch, aber der schöne Zuspruch aus dem VR-Chat und die Unterstützung seiner VR-Schamanin Sara gaben ihm die Gewissheit, weiter zu machen.
"Es war schon hart, das war kein leichter Spaziergang. Ich hielt mich ja ständig im öffentlichen Raum auf, immer waren Leute da oder schauten mir im Stream zu. Ständig hörte ich Musik und Geräusche aus dem Hintergrund des Games Science Centers. Wenn das VR hakte oder ausfiel, war ich in der Warteschleife in einem grauweißen Raum gefangen, der manchmal auch noch anfing zu zittern. Andere Leute hätten da sicherlich die Brille abgenommen, aber ich wollte durchhalten."
@felix knoke
Auch wenn der 48-Stunden-Ausflug für ihn spannend war, machte er doch auch deutlich, wie unterentwickelt die VR-Welten noch sind.
"Ich bin davon überzeugt, dass VR so funktionieren kann. Aber die Welten sind für lange Trips nicht ausgelegt. Die sozialen Treffpunkte gehen immer, aber für mich waren sie fast schon zu sozial, mir fehlten Rückzugsräume. Was fehlt sind Welten, in denen man viel entdecken kann. Bis jetzt gibt es nur niedliche Spielereien, die ein paar Minuten lang interessant sind. Hoffentlich werde in Zukunft noch coole Sachen entwickelt - und nicht nur Porno."
Überraschend unaufregend war das Körpergefühl: Weder verlor Thorsten S. Wiedemann die Kontrolle über seine Gliedmaßen, noch spürte er eine Art Dissoziation. Allein die blinde Orientierung im echten Raum mit Brille auf lief nicht so glatt - ein Zeichen dafür, dass nach und nach Thorstens Geist die virtuellen Räume als dominant deutete.
@felix knoke
"Mit Noise-Cancelling-Kopfhörern wollte ich mich schon für mein Experiment isolieren. Aber ich habe herausgefunden, dass ich das niemals auf Dauer geschafft hätte." Ein zweiter Trip soll nun das Erlebte ausreizen. Zusammen mit seiner VR-Schamanin Sara würde er gerne noch einmal für ein paar Stunden in die VR abtauchen - und dabei die umgebende Welt möglichst konsequent ausschalten.
Denn das war vielleicht die überraschendste Einsicht: Nicht die besonders clever gestalteten Welten führten zu einer Immersion, zu einem Aufgehen in der simulierten Welt, sondern die Anwesenheit anderer Menschen.
Erst sie verschafften der Welt Geltung - und einen Grund, sich nicht die Brille vom Kopf zu reißen.