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Christoph Sepin

Pixel, Post-Punk, Psychedelia und sonstige Ableger der Popkultur

11. 1. 2016 - 10:44

Zehn Lieder über die Einsamkeit

Mit seinem zweiten Album "Not To Disappear" gelingt unserem Artist of the Week Daughter die Gratwanderung zwischen minimalistischem Indie-Folk und reverblastigen Walls of Sound.

FM4 Artist Of The Week

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Isolation. Einsamkeit. Verlorensein im 21. Jahrhundert mit all seinen technischen Ablenkungen. Daughter ist eine Band der großen Emotionen, des Pathos und des Weltschmerzes. Und oft reichen drei Leute auch aus, um das am besten zu kommunizieren. Elena Tonra, Igor Haefeli, Remi Aguilella, aus dem Norden Londons, aus der Schweiz, aus Frankreich.

Kennengelernt haben sich Elena und Igor 2010 am Londoner Institute of Contemporary Music Performance. Also auf der Schule, auf die auch schon Mitglieder der Babyshambles, von Radiohead und von den Vaccines gegangen sind. Im Songwriting-Kurs. Für Elena war das Schreiben von Liedern schon immer ein Weg um mit dem Leben umzugehen. Früher mit dem Mobbing in der Schule. Heute mit der Einsamkeit, die auch nach dem Release eines der meistgelobten Alben 2013, "If You Leave", nie so richtig verschwinden will.

I feel numb in this kingdom

Nach dem Erfolg kommt die Taubheit. Die innere Leere. Das Alleinsein. Daughter haben darüber ein Album geschrieben, zehn Lieder über verschiedene Arten der Einsamkeit. Das Ergebnis ist ein überwältigend emotionales Werk der Gegensätze, der ruhigen Folkgitarren, der shoegazigen Soundwände, der kalten Reverbs und warmen Ambient-Wolken. Und trotz der schwierigen Nummer 2 Daughters bislang bestes Album.

"I’m trying to get out. Find a subtle way out. Not just cross myself out, not to disappear. I’ve been trying to stay out. But there’s something in you, I can’t be without, I just need it here."

"Not To Disappear" heißt der zweite Release der Band. Ein Sentiment, das schon mit dem ersten Track auf dem Album, "New Ways", ausgedrückt wird. "Wir wussten schon von Anfang an, dass New Ways das erste Lied sein wird", erzählt mir Igor. "Es beginnt bewusst untertrieben, geht dann aber in diesen großen, instrumentalen Teil über. Das hat sich wie eine nette, kleine Überraschung zu Beginn angefühlt." Er lacht. Weiß, dass die Überraschung gelungen ist. Der Switch von den simplen Folk-Gitarren zu den vollen Soundwänden.

Let the pictures soak

Mit "Doing The Right Thing" veröffentlichen Daughter eines der ausdrucksstärksten Musikvideos des Jahres.

Eine Veränderung, die notwendig war: Die Zeit der Lethargie ist vorbei, Daughter sind in die Offensive gegangen. "Wir waren lange auf Tour", sagt Igor. "Und haben herausgefunden, dass wir uns wohl dabei fühlen uns mit unserem Sound mehr ins Extreme zu bewegen. Auch Elenas Lyrics sind viel direkter, aggressiver und das hat dann gut mit dem agressiveren Sound zusammengepasst, an dem wir gearbeitet haben. Es geht darum, die eigene Stärke zurückzubekommen und herauszufinden, welche Schwächen man hat. Es geht um das Zurückkämpfen, darum sich selbst zu finden, in der Welt eine Rolle zu spielen."

Daughter im Studio

Rachael Wright

How long must I wait for you, to become what I need

Elenas Lyrics sind ein therapeutischer Bewusstseinsstrom, ihre persönliche Art zu sich selbst zu finden. Die Geschichten auf "Not To Disappear" sind biografisch, es geht um zwischenmenschliche Beziehungen, zur eigenen Familie, zu Liebhabern.

"I hate sleeping alone, I’m terrified with the lights out. I hate living alone. Talking to myself is boring conversation."

"I hate sleeping with you, cause you are never there. Just a shadowy figure with a blank face, kicking me out of his place."

Lieder wie "Alone With You" thematisieren das Ende der Honeymoon-Phase, den Tag nach dem Tag danach, wenn Liebe nicht mehr alles ist, nicht mehr genug. Die Geschichte einer Beziehung wird erzählt, perfekt inszeniert durch die immer zunehmende Instrumentalisierung. Die orientiert sich am gesamten Album an Elenas Vocals, nimmt mal ab, mal zu, bevor man schlussendlich von gigantischen Klangwolken ummantelt wird.

Daughter im Studio

Rachael Wright

Neben Igor durfte auch Nicolas Vernhes als Produzent auf "Not To Disappear" agieren, der in der Vergangenheit auch schon mit Bands wie Deerhunter, Wild Nothing, Animal Collective und The War On Drugs zusammengearbeitet hat. "Die Ästhetik des Albums war schon da", stellt Igor die Rolle von Nicolas klar. "Wir sind in sein Studio gegangen und er hat viel ausprobiert. Manche Sachen haben nicht funktioniert, andere dafür wieder sehr gut. Er hat uns dabei geholfen, das Album fertig zu machen."

Kollaboration und Einflüsse von außen sind wichtig für Daughter, die Band, die auch schon Daft Punks Party-Hymne "Get Lucky" zur emotionalen Ballade gemacht hat. Nicht nur musikalisch, sondern auch visuell. Für die ersten drei Musikvideos zu "Not To Disappear" haben Daughter mit den beiden Regisseuren Iain Forsyth and Jane Pollard zusammengearbeitet. "Wir haben Iain und Jane kontaktiert, um alle drei Videos auf einmal zu filmen. Die beiden wollten einen Kurzgeschichtenautor namens Stuart Evers involvieren, der dann drei Short Stories geschrieben hat, eine für jeden Song, basierend auf dem Text und der Musik der Lieder."

Das erste Video aus dieser Partnerschaft ist das zur ersten Single "Doing the Right Thing", der möglicherweise persönlichste und emotionalste Track auf "Not To Disappear". Elena thematisiert darin die Alzheimer-Krankheit in ihrer eigenen Familie, das sprichwörtliche Verschwinden des eigenen Selbst. "But I find it soothing, when I am confined. I'm just fearing one day soon, I'll lose my mind", singt sie über die Angst vor der Krankheit, über die Isolation, die diese mit sich bringt. "And they're making children. Everyone's in love. I just sit in silence. Let the pictures soak."

Not To Disappear Albumcover

4AD

"Not To Disappear" von Daughter erscheint am 15. Jänner auf 4AD.

Letzten Endes ist Daughter mit "Not To Disappear" ein triumphales zweites Album gelungen, eine beeindruckende Evolution des eigenen Sounds. Mit Songs, die thematisch vernetzt, aber gleichzeitig musikalisch eigenständig sind, emotional überwältigend, aber auch zugänglich und einladend. Und eines der jetzt schon ganz großen Alben des Jahres.