Erstellt am: 6. 1. 2016 - 13:51 Uhr
Mehr Glaube
Einige erinnern sich an die Neujahrsfeier, die sie gemütlich mit der Familie verbracht haben. Andere an den Klang der Champagnergläser im Restaurant. Für eine dritte Gruppe hingegen sind die einzige Erinnerung die Schreie der Partygäste auf der Silvesterparty. Die ersten spüren zur Erinnerung ein bisschen Langeweile. Die zweiten einen Kater. Dir dritten haben zu dem Kater auch noch oft Schuldgefühle.
Um den Klischees zu entkommen, entschied ich mit ein paar Freunden, Silvester in einer amerikanischen Kirche in Sofia zu verbringen. Es gibt seit mehr als 150 Jahren unterschiedliche evangelische Kirchen in Bulgarien. Sie wurden von der traditionellen orthodoxen Kirche immer eifrig bekämpft. In der Kommunismuszeit wurden die evangelischen Pfarrer als Spione beschuldigt und in Arbeitslager gesteckt. Im letzten Vierteljahrhundert erlebten sie eine Renaissance. Sie sind auf "Seelenjagd" in allen sozialen Schichten. Das ist nicht schwer, da die orthodoxe Kirche durch ihre Zugehörigkeit zur kommunistischen Staatssicherheit schwer diskreditiert ist.
Todor Bozhinov / Wikimedia Commons
Und so gingen wir am Silvesterabend zur amerikanischen Kirche im größten Sofioter Plattenbaughetto Liulin. Das neue, leuchtende Gebäude der amerikanischen Kirche in Liulin stand im riesigen Kontrast mit den grauen Plattenbauten rundherum. Wir gingen hinein, ohne jemanden von der Kirchengemeinde zu kennen. Die Kirche war voll mit den unterschiedlichsten Menschen. Sie hörten Gospel und Songs von Justin Bieber. Wir kannten weder die einen noch die anderen und konnten nicht mitsingen. Ich fühlte mich unwohl und fragte mich innerlich, was wohl so viele Menschen bewegt hatte, diese Kirche beizutreten. Die Aussichtslosigkeit des materiellen Lebens? Das Fehlen der Hoffnung in ihrer Plattenbauwelt? Alle diese Leute suchten nach Glauben. Ich fühlte mich überflüssig und ging hinaus. Die Nacht war eiskalt. Am nächsten Tag musste ich mit dem Bus durch das verschneite Serbien nach Wien.
Meine liebe M. und ich reisten mit dem Bus nach Wien und sprachen über den fehlenden Glauben, den die Menschen für ihr Leben brauchen. Wir kamen am frühen Morgen an. Wir gingen zu unserem Auto, das im gutbürgerlichen 13. Wiener Gemeindebezirk auf uns wartete. Der eine Reifen war mit einem Messer aufgeschlitzt worden. Da die Heizung kaputt war, fuhren wir nicht damit nach Bulgarien. Der arme Reifen sah so aus, als ob jemand über ihm Amok gelaufen wäre. Mehr als fünf Mal einen Reifen aufzuschlitzen ist kein Vandalismus, sondern purer Sadismus. Ich sah mich um. Wären wir Anhänger einer gewissen Partei, dann hätten wir sicherlich die Ausländer dafür beschuldigt. Dieser Bezirk aber schlief in seiner gutbürgerlichen, österreichischen Ruhe.
Ich seufzte auf. Vielleicht hatten die Menschen in der Kirche in Liulin Recht. Man braucht mehr Glaube. Glaube an die Menschheit, an das Gute. Und außer Glauben brauche ich jetzt einen neuen Reifen.