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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

31. 12. 2015 - 17:06

#rewind2015: Musik

Der geile Konsens. Ein Skippen durchs Musikjahr. Und: die 30 Alben des Jahres.

Rewind 2015

Der FM4 Jahresrückblick

Im Jahr der sich selbst erfüllenden Prophezeiung und der Übereinkunft war schon fast vor Erscheinen von Kendrick Lamars "To Pimp A Butterfly" so gut wie sicher und ausgemacht, dass diese Platte am Ende des Jahres als das Album des Jahres dastehen würde. Hier war und ist ein Album, das auch einmal wieder etwas bedeuten konnte. Eine Platte mit Aura und Symbolcharakter, mit Jazz und mit Politik.

Und so kann sich "To Pimp A Butterfly" ein wenig mit dem Geruch der Pflichterfüllung und eventuell ein bisschen unangehört dieses Jahr auch in traditionell vornehmlich der Rockmusik zugetanen Medien in den Jahresrankings ganz weit vorne wiederfinden - nach wie vor eine Seltenheit für Rap/HipHop-Alben.

"To Pimp A Butterfly" hat aber auch mit den Moden in Rap und HipHop der Gegenwart, der jüngeren und der gar nicht mehr so jüngeren Vergangenheit recht wenig zu tun. Diese Platte ist viel mehr eine betont historisch klingende Aneignung von mit Attitude und Haltung hochgeladenen, ausdrücklich afro-amerikanisch konnotierten Musiken der 70er: Der Widerstandsfunk von Sly Stone, die afrofuturistischen Space-Reisen von George Clinton, die Fieberarbeiten von Miles Davis.

Das ist – mit wenigen Ausnahmen – kein Album, das zur Partybeschallung taugt. Gleichermaßen ist in "To Pimp A Butterfly", selbst wenn die Verbreitung von Spaß nicht Primärmotivation sein dürfte, Vergnügen zu finden. Diese Platte ist nicht bloß relevanzgebeuteltes Artefakt, sondern kann Freude bringen. Es kann wahr sein: We gon' be alright.

Das HipHop-Album, das man dieses Jahr neben "To Pimp A Butterfly" gehört haben wollen sollte, so durfte man erfahren, war Vince Staples tatsächlich fantastisches Debüt "Summertime '06". Viel weiter wurde Richtung Rap – von Spezialmedien freilich abgesehen – in den meisten universell ausgerichteten, zwischen Indie, Elektronik, R'n'B, Dance, Rock und eben Rap mehr oder weniger alles als "Pop" begreifenden Magazinen und Blogs nur selten gebohrt.

2015, jene Zeit, in der Musik kein großer Identitätsstifter mehr ist, war von Kanonisierungsbemühungen des Formats "Album" durchsetzt wie lange schon nicht mehr. Halbwegs breitenwirksam, ein bisschen tonanagebend angelegte Medien – also wiederum nicht: Black-Metal-Blogs, Bossanova-Blogs, Chillwave-2009-Blogs – konnten sich zu weiten Teilen mehr oder weniger, natürlich mit einiger Varianz, auf die fünf, sechs, sieben Alben einigen, die 2015 halt eben wichtig und gut gewesen sind. Neben Kendrick Lamar vornehmlich: Jamie xx, Tame Impala, Courtney Barnett, Vince Staples, ein bisschen Sufjan Stevens und der Streitfall Grimes.

Die 30 Alben des Jahres:

  • 30 Balam Acab – "Child Death"
  • 29 RaeSremmurs – "SremmLife"
  • 28 Natalie Prass – "Natalie Prass"
  • 27 Sleater-Kinney – "No Cities To Love"
  • 26 Holly Herndon – "Platform"
  • 27 Levon Vincent – "Levon Vincent"
  • 26 Archy Marshall – "A New Place 2 Drown"
  • 25 Beach House - "Thank Your Lucky Stars"
  • 24 André Bratten – "Gode"
  • 23 Hieroglyphic Being & J.I.T.U. Ahn-Sahm-Bul – "We Are Not The First"
  • 22 Helen – "The Original Faces"
  • 21 Anthony Naples – "Body Pill"
  • 20 Deerhunter – "Fading Frontier"
  • 19 Panda Bear – "Panda Bear Meets The Grim Reaper"
  • 18 Sufjan Stevens – "Carrie & Lowell"
  • 17 Hunee – "Hunch Music"
  • 16 Jim O'Rourke – "Simple Songs"
  • 17 DJ Richard – "Grind"
  • 16 Tame Impala – "Currents"
  • 15 Kurt Vile – "B'lieve I’m Goin Down"
  • 14 Floating Points – "Elaenia"
  • 13 Joanna Newsom - "Divers"
  • 12 Julia Holter – "Have You In My Wilderness"
  • 11 Jamie xx – "In Colour"
  • 10 Carly Rae Jepsen – "Emotion"
  • 9 Vince Staples – "Summertime 06"
  • 8 Oneohtrix Point Never – "Garden of Delete"
  • 7 Jlin - "Dark Energy"
  • 6 Arca – "Mutant"
  • 5 Courtney Barnett – "Sometimes I Sit And Think, And Sometimes I Just Sit"
  • 4 Baio – "The Names"
  • 3 Waxahatchee – "Ivy Tripp"
  • 2 Kendrick Lamar – "To Pimp A Butterfly"
  • 1 Grimes – "Art Angels"

Fraglos allesamt ganz wunderbare Alben, oft war aber in der Kunde davon mehr der – sicherlich nicht unwesentliche – Abbildungszwang von Gegenwart und die Kulturgutmachung denn Leidenschaft zu schmecken.

Endzeit-Elektroniker Arca – sein dieses Jahr erschienenes zweites, dem Debüt aus dem Vorjahr überlegenes Album "Mutant" erklang heuer im Strudel des ständigen Neuigkeitswunsches weitgehend ungehört – arbeitet nach FKA Twigs und Kanye West mit Björk zusammen, ebenso wie Hexenmeister The Haxan Cloak. Antony Hegarty mit Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never. Oneohtrix Point Never selbst wiederum nähert sich mit seinem Album "Garden of Delete" Brutalo-EDM und Splatter-Stadion-Rave an.

Miley Cyrus sucht zwischen Hochglanz und Hit die Coolness und die Credibility bei den Flaming Lips, Caroline Polachek von Chairlift schreibt ein Lied für Beyoncé, Grimes einen – schließlich abgelehnten - Song für Rihanna. In der alles und sich selbst in allen Richtungen und anders herum durchdringenden Popuniversalität, an die wir uns gewöhnt haben, muss 2015 schon so einiges passieren, damit die alte Authentizitätsdebatte noch einmal durchs Wasserglas stürmt.

Ein fantastisches Album wie "Art Angels" von Grimes beispielsweise. Die Platte heißt: "Art Angels". Und klingt so. Nach Larifari, Zuckerwerk, Schickschock-Porzellan-Figürchen aus dem Souvenir-Shop, Prätenziösitäts-Quatsch und Autodrom.

Ein Album, das Pop im großen Stil neu erfindet, das gleichermaßen vom unbedingten Willen, Pop sein zu wollen, lebt wie von Kaputtheit und Schrott und besoffen neben der Spur läuft. Die absolute Catchiness, die hundert Hooks, Hits und Melodien, die dümmsten Sounds, die schiefen Beats, die absolute Zumüllung und die endültige Entgrenzung, die tatsächlich auf alles andere da draußen kaum etwas zu geben scheint und dabei dennoch die gesamte Welt in die Arme nimmt und ganz lieb drückt.

Der Pop wird weirder, das Weirde wird mehr Pop, alles wird mehr Pop, nebenbei betanken gute Menschen das gute, alte Gefäß von Singer/Songwriterum und mit Hand gemachter Indiemusik mit neuem Leben. Mit Gitarren und allem. Der übellaunige und gewitzte Polterrock von Courtney Barnett, Tagebuchpoesie und Postgrunge von Waxahatchee, 90er-Indie mit Punk-Attitude von Hop Along und Colleen Green, der toll pompöse und zerbrechliche Country-Soul von Natalie Prass.

Joanna Newsom und Julia Holter stöbern in groß orchestrierten Entwürfen und pflegen das Joni-Mitchell-Denkmal. Sufjan Stevens wählt die akustische, minimale Variante, singt von Familie und Tod. In seinem Song "Should Have Known Better", einem Lied des Jahres, erkennt er die Wahrheit: "I should have known better, nothing can be changed, the past is still the past, the bridge to nowhere, I should have wrote a letter, explaining what I feel, that empty feeling." Die Musik füllt das Loch.