Erstellt am: 30. 12. 2015 - 16:48 Uhr
#rewind 2015: Kino kommt von Kamera
Rewind 2015
Der FM4 Jahresrückblick
Stimmt schon, die meisten Gespräche, die ich heuer führte, ob spätnächtlich auf Partys, im Kaffeehaus, auf Reisen oder zuletzt bei Weihnachtsfeiern, endeten irgendwann bei dem anhaltenden Serienfieber. Längst ist nicht mehr Musik ein verbindendes Thema zwischen Generationen und Geschlechtern und die Politik spaltet in hyperkomplexen Zeiten ohnehin. Aber alle schauen angloamerikanische Serien, ob mittels illegaler Quellen oder vorbildhaft via Bezahlfernsehen und Kabel-TV.
Es sind Sender wie HBO, Showtime oder AMC, die für avancierte Teile der westlichen Gesellschaft jene zentralen popkulturellen Identifikationsmomente liefern, für die früher Schlüsselalben legendärer Bands verantwortlich waren. Oder eben auch bestimmte Kinofilme. Von letzteren wird schon weitaus weniger geschwärmt als von diversen Lieblingsstaffeln oder TV-Charakteren, mal abgesehen von der hysterischen „Star Wars“ Eventkultur, die eher mit Sport-Großereignissen oder dem Songcontest vergleichbar ist.
Diese Erkenntnis ist natürlich alles andere als neu, wird im Gegenteil vom Feuilleton schon bis zur Ermüdung breitgetreten. Aber 2015 erreichte die Begeisterung für Serienformate und deren Verbreitung das nächste Level. Bingewatching hat Gesellschaftsschichten erobert, die die „Sopranos“ einst nur vom Hörensagen kannten und immer mehr Menschen zelebrieren den Montag im Zeichen der am Sonntagabend in den USA ausgestrahlen Serienfolgen.
Ich kann das einerseits verstehen, haben mich doch manche Episoden von „The Leftovers“, „The Knick“, „Hannibal“ oder der zweiten „True Detective“ Staffel heuer dermaßen in den Bann gezogen, wie es einer Platte oder einem Buch kaum gelungen ist. Aber das Kino bleibt für mich andererseits etwas Heiliges, eine ganz spezielle Kunstform, die selbst mit den besten Serien schwer vergleichbar ist.
Cinemax
Verstaubte dramaturgische Vorgaben
Ich rede in diesem Zusammenhang natürlich nur von ausgewählten Filmen, die mit dem Kino auch als Ort und Idee auf besondere Weise umgehen. Denn wenn die Serieninflation etwas auslöschen wird in den nächsten Jahren (zusammen mit geänderten Produktionsbedingungen), dann ist es das filmische Mittelmaß, das früher durchaus für nette Videothekenabende zuständig war.
Ich erinnere mich an kaum eine der morgendlichen Pressevorführungen mehr, wo ein eigentlich ganz passabler Thriller, eine halbwegs liebenswürdige RomCom oder ein durchschnittlicher Actionfilm gelaufen sind, wenn mich in der Nacht davor eine Episode von „The Leftovers“ in die Couch hineindrückte. Wenn es um so schlichte Dinge wie Spannungserzeugung oder Identifikation mit (auch und gerade höchst zwiespältigen) Charakteren geht, haben HBO & Co. die meisten vergleichbaren Filme tatsächlich überholt.
Der Grund ist offensichtlich: Viele Filme glauben noch immer in einem Punkt bestechen zu können, an dem sie im Serienzeitalter schon verloren haben: Dem gewohnheitsmäßigen Erzählen von Geschichten. Verbildet in Hochschulen und Drehbuchseminaren folgen Autoren in ihren Skripts den verstaubten dramaturgischen Vorgaben aus einer anderen Ära. Szene für Szene wird nach etablierten Mustern abgespult, dem vorhersehbaren finalen Akt folgt eine Art von entspannender Auflösung oder gar ein aufgesetzter Twist, über den die radikalen Macher mancher Ausnahmeserien nur mehr zynisch schmunzeln.
HBO
Die Sache mit Inhalt und Form
Wer jetzt nur an die Fließbandfabriken Hollywoods denkt, an die offensichtliche Entertainent-Industrie mit ihren starren Regeln, sei an die Tristesse eines europäischen Kinos erinnert, das mit einer Art Feelgood-Arthouse die Programmkinos verstopft. Ich meine jene Filme, wo ältere Semester im Publikum gerne mal von Storys über französische Paare in der Midlife-Crisis so tief berührt werden, dass sie meinen, etwas ernsthaft Anspruchsvolles gesehen zu haben, anstatt eine berechenbare Tragikomödie, die mit malerischen Toskana-Szenerien nicht geizt.
Es sei diesen Kinobesuchern vergönnt, dass sie eine kleine Träne beim Happy End vergießen, aber klarerweise sprechen wir hier von letzten Zuckungen einer untergehenden Welt, ähnlich dem Kauf eines gediegenen Vinylboxsets einer längst aufgelösten Band aus der Rockhistorie. Fast noch schlimmer wirkt das Vortäuschen von Avanciertheit bei manchen Produktionen aus dem Arthouse-Sektor, bei denen es um Aufklärung, Politik, soziale Brandherde geht.
Denn da zählt oft plötzlich nur mehr der gutgemeinte, brisante, politisch korrekte Inhalt, da muss man biedere Fernsehspiel-Ästhetiken oft ebenso ertragen wie bei Dokus eitle Regisseure, die sich selber ins Zentrum des konventionell inszenierten Geschehens drängen. Dabei, und jetzt komme ich zum Kern meiner Thesen, geht es im Kino doch ganz stark um die Form, um Gründe, warum auch in der Gegenwart Zuseher noch immer Eintritt zahlen sollen, um in der Dunkelheit auf eine Leinwand zu starren. Statt nebenbei essend auf dem Laptop etwas anzusehen, mit dem Tablet im Bett einzuschlafen oder auch in der U-Bahn auf dem Smartphone Bewegtbilder zu konsumieren.
Constantin Film
Ellis und Tarantino sprechen Klartext
Kaum jemand bringt sich in diesen Diskurs um Inhalt und Form, um die verbliebenen Stärken des Kinos angesichts des Serienwunders, stringenter und militanter ein als der für mich großartigste Filmkritiker des Planeten, der eigentlich ein bekannter Buchautor ist. Es ist ein reiner inspirierender Hochgenuß, sich regelmäßig den Podcast von Bret Easton Ellis anzuhören, der stets mit mindestens viertelstündigen Monologen ohne Punkt und Komma beginnt. In diesen hämmmernden Satz-Stakkatos, aber auch in den folgenden Gesprächen mit Gästen wie Kanye West, Marylin Manson oder Kim Gordon, spricht der kalifornische Schriftsteller alles an, was im Hier und Jetzt noch popkulturelle Bedeutung haben könnte.
Fast schon Funken sprühten, als sich Ellis zuletzt den nicht ganz unbekannten Regisseur Quentin Tarantino in sein Podcast-Studio geladen hatte. Die beiden Starvertreter der Generation X, die beide viel zu jung zu viele Nächte genießerisch in Lichtspieltheatern verbrachten, mit abseitigen, delirierenden, unter die Gürtellinie zielenden Schundfilmen, reden sich beim Themengebiet Film/Fernsehen in einen unterhaltsamen Furor.
Ihrer gemeinsamen Grundaussage lässt sich nichts entgegensetzen: Das Fernsehen, selbst in seiner futuristischsten Form, ist ein Medium der Autoren. Wer kann selbst von seinen Lieblingsserien die Regisseure aufzählen, fragt Bret Easton Ellis. Es geht um die Magie der nicht enden wollenden Narration, die durch bestimmte Kniffe und Tricks erzielt wird. Gewisse Zwänge des Bildschirms spielen dabei übrigens auch bei scheinbar kompromisslosen Formaten eine Rolle, hält Quentin Tarantino fest. Spielfilme dagegen sind das Medium der Regisseure und vor allem auch Kameramänner. Ihre verführerische, hypnotische oder auch verstörende Wirkung vermittelt sich im bestmöglichen Fall in erster Linie über Stimmung und Atmosphäre, Bilder und Sounds.
Stadtkino
Bilderpoesie und Ganzkörpererfahrungen
Die für mich herausragenden Filme 2015 bestätigen diesen Ansatz doppelt und dreifach. Denis Villeneuve transformiert „Sicario“, seinen Kriegsbericht über den mexikanischen Kartellterror, mit Hilfe seines genialen Kameramanns Roger Deakins in grimmige Poesie. In Alex Garlands Regiedebüt „Ex Machina“ wird ein dialogreiches Sci-Fi-Kammerspiel in eine eisige visuelle Eleganz verpackt, die bisweilen an Stanley Kubrick erinnert. „Inside Out“ zeigt den Prozess des menschlichen Denkens und Fühlens als rasante Animations-Achterbahnfahrt, während „Mad Max: Fury Road“ überhaupt als reine kinetische Erfahrung fasziniert, als ganzkörperliches 3D-IMAX-Erlebnis, ausgehend von einem sparsamen Handlungsgerüst.
Aber auch im schleichenden Horrormärchen „Ich seh Ich seh“ der Österreicher Veronika Franz und Severin Fiala geht es nicht darum, den kleinen Twist zu erraten oder um realistische Psychologie, es zählt ein verstörendes Spiel der Blicke, Gesten, Berührungen, blutigen Verletzungen. Schauspielstar Ryan Gosling baut in seinem Regiedebüt „Lost River“ gleich den Großmeistern des assoziativen, surrealen, bildgewaltigen Kinos ein Denkmal: David Lynch, Dario Argento, Alejandro Jodorowsky.
Abseits des Genrekinos und seiner Hybride fesselten Regiephilosophen wie Paolo Sorrentino („Youth“), Matteo Garrone („Tale of Tales“), Alejandro González Iñárritu („Birdman“) und natürlich Terrence Malick („Knight of Cups“) in ihren Reflexionen über Krisen und Verfall mit rauschhaften Einstellungen. Und übten sich in einer Kino-Königsdisziplin: Den Schmerz der Existenz in Schönheit zu verwandeln und so zu transzendieren. Formal herausragend auf ganz andere, weniger offensichtliche, aber genauso streng durchkomponierte Weise wirkten triste Psychodramen wie „Foxcatcher“ oder „Queen Of Earth“ mit ihrem bewussten Einsatz von grobkörnigem Zelluloid-Filmmaterial.
Centfox
Lang lebe die Sehlust
Dabei stehen die erwähnten und noch andere herausragende Filme dieses Jahres keineswegs für einen hohlen Kult des L’art pour L’art, für einen sinnentleerten Ästhetizismus, der sich nur an Oberfächen aufgeilt und die Dringlichkeiten des echten Lebens ignoriert, im Gegenteil. „Mad Max: Fury Road“, um das vielleicht extremste Beispiel herauszugreifen, erzählt inmitten einer Non-Stop-Raserei durch die postapokalyptische australische Wüste von einem Bündnis der Antiheldinnen und Antihelden, feiert starke Frauen aller Altersstufen bis hin zu einem finalen Pamphlet für das Matriachat.
Es ist dieser Mix aus minimalem Plot und maximalem Subtext, der George Millers Actioninferno so visionär macht, noch dazu im Kontext des kommerziellen Entertainmentkinos, während viele aufdringlich engagierte Filme in altmodischen Storykorsetten aus dem Skript-Workshop dahertaumeln. Und mit dem Zeigefinger drohend signalisieren: Ihr müsst mich mögen, bei mir ist die richtige Ideologie zuhause, auch wenn mir die Form eher egal ist.
Natürlich ist „Mad Max“ ein singuläres Phänomen und keine Blaupause für das spannende Gegenwartskino. Aber in einer Produktionslandschaft, wo es irgendwann nur mehr sauteure Blockbuster geben könnte und No-Budget-Werke, die am Smartphone gedreht werden, muss sich der filmische Mittelbereich doppelt bemühen, nicht im Mittelmaß zu versinken. Die Welt, zumindest auf jeden Fall meine Welt, braucht mitreißende Streifen, die Drehbuch-Gesetze unterlaufen, gängige Dramaturgie-Schablonen ignorieren, gerne auch Dialogkaskaden abfeuern, aber in eine sichtbare Liebe zur herrlichsten Form des Voyeurismus eingebettet: der Sehlust im dunklen Kinosaal.
Warner
Wer den Film immer noch und auch in Angesicht immer filmischer und atmosphärischer werdender Serien ungebrochen anbetet, wird zur Jahreswende reichlich beschenkt. So gänzlich unterschiedliche Werke wie der melancholische 3D-Kunstporno „Love“, die wahnwitzige Western-Experience „The Revenant“ oder die berührend choreografierte Underdog-Saga „Joy“ zelebrieren eine sheer movieness (Zitat Bret Easton Ellis), sie erweisen sich als Bekenntnis zur Kinokunst, die kein beliebiger Content auf irgendeinem Abspielgerät sein will. Nur wenn dieser Weg konsequent beschritten wird, werden sich die ganzen Diskussionen in Bars und Kantinen endlich wieder auch mehr um Spielfilme drehen.