Erstellt am: 24. 12. 2015 - 11:57 Uhr
Ironisch Weihnachten feiern
Noch vor ein paar Jahren wäre ich um diese Zeit längst Richtung Süddeutschland aufgebrochen, weniger in Vorfreude, als mit dem wehmütigen Gefühl, Berlin ausgerechnet jetzt verlassen zu müssen.
Lange Jahre hindurch bedauerte ich mich immer um den vierten Advent herum sehr: Jetzt wohne ich schon 10, 15, 20 Jahre in Berlin und habe doch noch kein einziges Mal Weihnachten in der Stadt verbracht! Weihnachten in Berlin, das kannte ich nur aus den Erzählungen der echten, gebürtigen Berliner: Wie leer und still die Stadt in den Tagen kurz vor dem Fest sei, was für eine schöne, ganz eigene Stimmung da über den leeren Straßen läge, so friedlich und ruhig wäre Berlin das ganze Jahr lang nicht.
Christiane Rösinger
Und man schwärmte mir vom Heiligabend und den legendären Konzerten in der Berliner Volksbühne vor, wo Underground - Bands wie The Fall spielten und wo man dann um Mitternacht die verschworene Gemeinschaft der "echten" Berliner treffen würde.
Ich hingegen hatte bis dahin mein ganzes Leben lang jede Weihnacht in Hügelsheim, einem kleinen badischen Dorf am Rhein, an der Grenze zu Frankreich verbracht. Es hatte sich einfach so ergeben. Als Kind und Jugendliche feierte man Weihnachten sowieso mit den Eltern, als ich dann in den Achtzigern in Berlin wohnte und erst mal einsam war und keinen kannte, lieferte das Fest einen willkommenen Grund für den Besuch daheim und bei den alten Freunden.
Meine Geschwister hatten längst eigene Familien gegründet und verbrachten Heiligabend bei den Schwiegereltern in den Nachbardörfern, kamen höchstens spätabends noch bei ihrer Stammfamilie vorbei. Ich als Jüngste hatte zwar ein Kind, aber trotzdem keine "richtige" eigene Familie vorzuweisen und war deshalb immer bei meinen Eltern. Manchmal brachte ich einen Freund aus Berlin mit, aber nie zweimal denselben. Ich dachte oft an ein anderes Weihnachten: Einfach in meiner Berliner Wohnung bleiben, sich mit Freunden treffen, abends ausgehen.
Da hatte hat man doch so gekämpft für ein eigenes, anderes Leben, nach anderen Gesetzen, und saß dann doch am 24. unter dem Tannenbaum bei der Familie.
Bei der weihnachtsgestressten Mutter, der mal wieder keiner geholfen hatte, und dem alten Vater, der im besten Falle sentimental wurde: "Damals 1942 im Schnee in Russland, da hätte keiner von uns gedacht, dass wir noch einmal so ein Weihnachen erleben."
Weihnachten war oft anstrengend, es gab gerne Krach und es waren meistens nur Momente, die gut waren. Aber die Eltern wurden immer älter und zerbrechlicher, unmöglich, mit der Weihnachtsautonomie gerade jetzt anzufangen. Dann starb die Mutter, der Vater blieb allein, natürlich musste man sich an Weihnachten um ihn kümmern. Und da ich immer noch keine eigene Kleinfamilie vorzuweisen hatte, war es selbstverständlich, dass ich den Vater an Weihnachten übernahm. Dann, als beide Eltern nicht mehr lebten, gab es eigentlich keinen Grund mehr, im Dezember in das Dorf zu fahren – ich fuhr trotzdem. Wenn die Eltern nicht mehr da sind, werden die Geschwister anhänglicher.
Christiane Rösinger
Doch dann war es endlich soweit. 25 Jahre nach meinem Umzug nach Berlin verbrachte ich Heiligabend zum ersten Mal meiner Berliner Wohnung. Es war großartig. In Ermangelung anderer Konzepte spielte ich mit meinen Gästen das Weihnachtsfest der Eltern nach, nur in anderem Dekor. Endlich mit echten Kerzen! Die Eltern hatten sich stets gegen das altmodische Zeugs gewehrt und seit den Sechzigern auf bunten amerikanischen Lichterketten bestanden.
Wir überlegten uns ganz ironisch-konventionell die Menüfolge und Tischdekoration, sangen und spielten irgendwie ironisch und dann doch mit Inbrunst alle Strophen sämtlicher Weihnachtslieder, gingen dann zu stundenlangen Singstar-Karaoke-Sessions über, stürzten nachts angetrunken auf die leeren Straßen, gingen in halbleere kaputte Bars, trafen andere weihnachtlich verloren wirkende Seelen – alles in Allem war die Berliner Weihnachtspremiere ein voller Erfolg. Und es war wirklich ein besonderes Gefühl in diesen Tagen vor dem Fest, wenn Berlin plötzlich so still und leer wird – aber so leer wie Westberlin in den Achtzigern wird es hier nie mehr werden.
Trotzdem wurde das Erfolgskonzept "Ironisch Feiern" nicht lange weiter geführt. Denn plötzlich kam Nachwuchs ins Haus, denn auch wer nie eine Kleinfamilie wollte oder hatte, kann Oma werden und ist dann traditionell für die weihnachtlichen Rituale zuständig.
Und auf einmal ist alles gar nicht mehr so ironisch, denn schon Einjährige sind verzaubert, wenn sich Kerzenschein im Fenster spiegelt, und dieses Jahr, in der Anwesenheit eines begeisterten Fünfjährigen ist es unmöglich "ironisch" Weihnachten zu feiern. Es ist einfach Weihnachten.