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Thomas Edlinger

Moderiert gemeinsam mit Fritz Ostermayer "Im Sumpf".

27. 12. 2015 - 23:00

#rewind2015: Im Sumpf Jahresrückblick

Wird 2015 das Jahr sein, von dem man später sagen wird: Hier hat es begonnen? Oder wird es das Jahr sein, von dem man später sagen wird, dass der Ausnahmezustand zur Routine geworden ist? Plus: Die 5 besten Songs und Alben.

Rewind 2015

Der FM4 Jahresrückblick

2015, das hieß vor allem: Griechenland und Syrien. Beide Länder (oder soll man sagen failed states?) stehen für substantielle Erschütterungen, die sowohl den Rechtsruck in Europa befördern wie auch die Saat des Terrors bestellen. Hillary Clinton hat schon recht: Der Rassismus des Wutmilliardärs Donald Trump rekrutiert den Wutnachwuchs des IS.

Vielleicht wird 2015 retrospektiv einmal als das Jahr gelten, in dem sich die Einsicht durchsetzte, dass beides miteinander zu tun hat: die ökonomische und die politische Krise, der westliche Rassismus gegen das sogenannte Andere und die Berufung auf den apokalyptischen Endkampf der Anderen gegen den Westen. Vielleicht wird man irgendwann erkannt haben, dass die arabischen Despotien und die westlichen Postdemokratien einen gemeinsamen Fluchtpunkt haben: die Oligarchie, die Herrschaft der Wenigen. Diese Wenigen sind mehr und mehr deckungsgleich mit den Superreichen, die sich transnationale Macht kaufen. Putin, Zuckerberg und das saudische Königshaus: Sie alle sind too rich to fail und glauben aus unterschiedlichen Gründen nicht oder nicht mehr an die alte Quatschbude Demokratie - was sie wiederum mit der aufstrebenden Rechten zwischen Marine Le Pen, Victor Orban und Jaroslaw Kaczinski verbindet.

Im Sumpf

Die Sendung für 7 Tage im neuen FM4 Player anhören.

Sehr oft hat man 2015 von den sogenannten europäischen Werten gehört. Werte haben immer etwas mit Kultur zu tun. Kultur hat immer etwas mit Kulturalismus, also der Zuschreibung von kulturellen Eigenschaften zu tun. Sind die europäischen Exportschlager Kolonialismus, Imperalismus, Holocaust und Weltkrieg auch europäische Werte, die der guten alten Aufklärung irrtümlich beigemischt wurden? Waren es umgekehrt gar orientalische Werte, die vor ein paar Jahren den arabischen Frühling und die demokratische Rebellion antrieben? Oder gibt es ein - möglicherweise einmal in Europa formuliertes, aber prinzipiell nur universell denkbares Bedürfnis nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit, auf das niemand ein regionales Copyright oder Deutungsmonopol hat?

South as a State of Mind

Documenta

Die Slavoi Zizeks dieser Welt schreiben mittelweile schon den globalen Klassenkampf herbei, während unser Kollege Robert Misik mit Blick von Griechenland nach Spanien fragt, ob linkes Regieren in Europa mittlerweile verboten ist. Anlässlich der Documenta 2017 erscheint schon jetzt ein Heft, das sich als Stimme des Südens versteht, aber diesen nicht als Region sieht. Das Sonderheft zur Megakunstschau nennt sich lieber South As A State of Mind.

South As A State of Mind - solche Selbsteinschätzungen findet man eben auch im Norden. In den Banlieues, in den sogenannten Problembezirken oder in den verwahrlosten Ghettos der USA. Auffällig war dieses Jahr, wie wirkungsmächtig sich die afroamerikanische Message Music diesbezüglich zu Wort meldete. Kendrick Lamar war da nur die Spitze des Eisbergs, auch Newcomer Vince Staples widmete sich dem epischen Realismus der Straße. D´Angelo reanimierte den Funk als eleganten Sound des Widerstands, die Jazzerin Matana Roberts lieferte das dritte Kapitel ihrer feingliedrigen Erinnerungsarbeit über das kulturelle und soziale schwarze Erbe. Dazu gesellten sich Bezüge zum frei schwebenden Utopismus eingedenk des Alien in Drag namens Sun Ra: Theesatifaction spekulierten über Anerkennung in einem postblacken Amerika und Hieroglypic Being gab in seiner Freecore-Sonic Fiction den Slogan aus: "Fuck the Ghetto, think about Outer Space." Und dann gab es auch noch Zornbinkerl-Energie von den Young Fathers oder den Neogospelpunk von Algiers und und und. Soviel Vielfalt im Nein zum Hier und Jetzt des schwarzen Körpers war selten.

Und noch etwas war, assoziativ gesprochen, ungewöhnlich. Zumindest für mich. Ich weiß, man sollte das nicht extra betonen müssen. Aber so viel aufregende Musik, die nicht von Männern gemacht wird, ist mir noch nie untergekommen wie dieses Jahr. Die Palette reicht vom knochentrockenen Sirenenrock der Altspatzinnen Sleater Kinney über die Voice-Zerlegungen von Holly Herndon bis zum ideenreichen Singersongwritertum von Jenny Hval und vielen andern Musikerinnen, die sich zum Teil in meiner persönlichen, kleinen Best-Of-Liste wiederfinden.

Fußnote Ostermayer:

Verfall und Gedächtnisverlust als Basis einer neuen nervösen Energie: Von klassischem Ambient zu überwältigender Drone-Music sind es mittlerweile nur ein paar Schritte über das Trümmerfeld zeitgenössischer Elektronik. Was gestern noch als gespenstische Hauntology gedeutet werden konnte, geistert heute als vielleicht letztes Angebot einer Katharsis durchs Noiseland. Zahlreiche Alben des vergangenen Jahres huldigten dieser Ästhetik einer areligiösen Spiritualität, die einen gleichzeitig niederringt und erhebt. Wrekmeister Harmonies, Loscil, The Sight Below und als einer der besten im Aufbauschen des großen Nichts: Rafael Anton Irisarri mit seinem Album A Fragile Geography. Drone lass nach!

Fußnote Seidler:

In der Clubmusik hat sich der strenge Techno-Tonfall der letzten Jahre ein wenig gelockert. In DJ-Sets und auf Dancefloors und Alben ist wieder Platz für buntgemischte Stilpluralität von Disco bis Afrobeat, Krautrock bis Techno, Bass Music bis Pop und experimentelles Sounddesign. Die Verschmelzung von Underground und Mainstream nimmt zwar schon seit vielen Jahren ihren Lauf, ich meine aber zu beobachten, dass "schwierigere" oder einfach hauptsächlich elektronische Musik von etwa Arca, Jon Hopkins oder Floating Points in den Pop-Feuilletons vermehrt wahrgenommen wird. Mit "In Colour" von Jamie XX hat es gar ein streckenweise rein instrumentales Album in die weltweiten Popcharts und Jahresbestenlisten geschafft.

Sumpf-Jahrescharts

Und das sind unsere 5 Lieblingssongs – bzw. Alben. Von himmlisch heavy bis teuflisch gut.

Thomas Edlinger

5 Songs (ungereiht)
Colin Self Aflame
Elysia Crampton Petrichrist
Julia Holter Night Song
U.S. Girls Sororal Feelings
David Bowie Blackstar
Top 5 Alben
1. The Grubby Mitts What The World Needs Now Is The Grubby Mitts
2. Darren Hayman Chants for Socialists
3. Hieroglyphic Being & The JITO Ahn-Sahm-Buhl We Are Not The First
4. Oneirogen Plenitude (EP)
5. Heather Leigh I Abused Animal

Fritz Ostermayer

5 Songs (ungereiht)
D’Angelo & The Vanguard Ain't That Easy (Black Messiah)
Ludovico EInaudi Core Meu (Taranta Project)
Corrina Repp Another Shape (The Pattern Of Electricity)
Mamaleek Nothing But Loss (Via Dolorosa)
Das trojanische Pferd Staub (Dekadenz)
Top 5 Alben
1. Envy Atheist’s Cornea
2. Ian William Craig Cradle for the Wanting
3. Four Tet Morning-Evening
4. Monk Parker How The Spark Loves The Tinder
5. The Grubby Mitts What the World Needs Now Is

Katharina Seidler

5 Songs (ungereiht)
DJ Koze I haven’t been everywhere but it’s on my list
Young Fathers Shame
Rat Columns Should I leave you alone?
Tropic of Cancer I woke up and the storm was over
Majical Cloudz Downtown
Top 5 Alben
1. Courtney Barnett Sometimes I sit and think and sometimes I just sit
2. Kendrick Lamar To pimp a butterfly
3. Molly Nilsson Zenith
4. Mourn Mourn
5. Sleep Sleep