Erstellt am: 28. 12. 2015 - 19:43 Uhr
#rewind2015: Musik zur Flüchtlingsbewegung
Rewind 2015
Der FM4 Jahresrückblick
Vier Beispiele, wie sich die Flüchtlingsbewegung in der Musik des Jahres 2015 niedergeschlagen hat. Denn da wo uns aufgrund von hunderten Toten an den vermaledeiten Grenzen Europas die Worte verlassen, sind es oft Musiker_innen, die nicht nur Worte finden, sondern uns ins Gewissen reden und den flüchtenden Menschen eine Stimme verleihen.
Raoul Haspel - "Schweigeminute (Traiskirchen)"
Am Anfang vielleicht das breitenwirksamste Stück Musik zum Thema Flucht. Der Künstler Raoul Haspel veröffentlicht Ende August eine Minute Stille und versichert auf Facebook: "Der gesamte Erlös von Schweigeminute geht zu 100% an Happy.thankyou.moreplease! & somit nach Traiskirchen. Jeder Cent kommt an!"
Es stimmt. Bis Ende Oktober wird der Song vierzehntausend Mal heruntergeladen und die private Flüchtlingsinitiative bekommt eine großartige Spendensumme überreicht. Die Berichterstattung in nationalen und auch vielen internationalen Medien ist groß und so wird sogar bei der Großkundgebung am Wiener Heldenplatz die Schweigeminute "gespielt".
AP/Christian Bruna
Man sollte meinen das Phänomen von Stille als Musik sei spätestens seit John Cage kein Aufreger mehr, wenn die Aufregung aber so einem guten Zweck dient, dann ist das natürlich verziehen.
Tocotronic - "Ich öffne mich"
Eine Band, die sich schon lange für eine menschenwürdige Asylpolitik einsetzt, ist Tocotronic. Immer wieder weisen sie auf ihre langjährige Partnerschaft mit der Initiative Pro Asyl hin. In ihrer Musik findet sich das Thema bei genauerem Hinhören auch immer häufiger. Für mich sind die Texte von Tocotronic die politischsten des Jahres.
"Wir steigen durch die Pfützen hinab, zu den Augen des andern.", singt Dirk von Lowtzow in "Ich öffne mich", der Song vom neuen Album, der neben "Solidarität" die Flüchtlingsbewegung wohl am offensichtlichsten thematisiert. Die Pfützen als Sinnbild für das Mittelmeer, an dessen gegenüberliegendem Ufer man sich vor allem eines erhofft: Respekt auf Augenhöhe. Jeder Zweifel, dass es sich hier um einen Pärchen-Song handeln könnte, wird am Ende mit der Zeile "Wir sind mehr als zwei!" einfach ausgelöscht. Es geht um uns alle, um ein großes Ganzes. One World.
Ich öffne mich und lasse dich in mein Leben. (...)
Ich öffne mich, öffne die Grenzen für dich. (...)
Für dich, für mich, für alle. Für uns.
Das Interview stammt bereits aus dem Jahr 2013.
Überhaupt ist das ganze rote Album nicht - wie fälschlicherweise oft angenommen - ein Album über Liebe, sondern ein Album über Flucht und all ihre Nebenaspekte (also im besten Fall auch (Nächsten-)Liebe). Kann man sich ruhig mal wieder auf den Plattenteller legen und sozusagen "close listening" betreiben, dann wird man sich wundern, wie man die vielen sehr guten Hinweise auf das Thema Flucht beim ersten Mal überhören konnte.
M.I.A. - "Borders"
Mathangi Arulpragasam aka M.I.A. hat ja in ihrer langen Karriere sowieso noch nie etwas falsch gemacht. Dass sie auch politisch auf der Seite der Menschenrechte steht, beweist sie immer wieder, so auch im neuen Song "Borders", indem sie fast trotzig die Asylpolitik angreift.
Borders, what's up with that?
Politics, what's up with that?
Police shots, what's up with that?
Im fantastischen Video hängt M.I.A. am Grenzzaun ab, fährt im Flüchtlingsboot übers Meer und steht in eine Wärmedecke gehüllt an der Küste. Alles ohne Pathos, aber mit umso mehr Power. Mitleid, up yours! Die Menschen, die nach Europa kommen sind an ihren Schicksalsschlägen nicht immer nur zerbrochen, sondern auch gewachsen, das versteht man nachdem man das Video zu "Borders" gesehen hat. M.I.A. hat ihren Bildungsauftrag bestens erfüllt.
Your privilege, what's up with that?!
Die Goldenen Zitronen - "If I Were A Sneaker"
Dass es Waren, wie zum Beispiel ein Turnschuh, leichter haben Grenzen zu überqueren, als Menschen, ist vielleicht altbekannt, aber man kann sich diesen Wahnsinn, den wir Realität nennen, ruhig mal wieder vor Augen führen. Das haben sich auch die Goldenen Zitronen gedacht.
Im September brachten sie deshalb "Flogging a Dead Frog" heraus, ein Album für das sie viele ihrer alten Hits neu eingespielt und auf englisch eingesungen haben. Aus "Wenn ich ein Turnschuh wär'" wird "If I were a sneaker" und nicht nur der Text ist in your face, sondern auch das dazugehörige Video. Vielleicht sogar das beste Musikvideo dieses Jahres.
I could cross your shitty western sea.
Das es sich hierbei nur um eine kleine Auswahl handelt, ist klar. Es gab auch viele österreichische Musikbeiträge gegen die herrschende Flüchtlingspolitik und für eine offene Willkommenskultur. Und auch der Sampler "Melodies For Refugees" ist erschienen.
Welche Songs fassen für dich die Geschehnisse am besten zusammen?