Erstellt am: 19. 12. 2015 - 10:52 Uhr
"Failing Stadt"
In diesen Wochen wird unser liebes Berlin von allen Seiten niedergemacht. Berlin-Bashing in Print, Funk und Fernsehen, vor allem aus den weniger attraktiven deutschen Städten, das kennen wir ja. Aber jetzt hat Spiegel Online Berlin sogar eine "failed Stadt" genannt, eine "gescheiterte" Stadt. Failed States nennt man ja Staatsgebilde, die ihre grundlegenden Funktionen nicht mehr erfüllen können, so wie Somalia oder den Tschad.
Nun, es gibt Schwierigkeiten in der Berliner Verwaltung, das stimmt.
- Es ist sehr schwer, einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen, wenn man zum Beispiel einen neuen Pass braucht. Ist man um 3 nach 8 in der Früh vor Ort, gibt es keine Wartenummern mehr. Im Internet gibt’s Termine erst wieder in 2 Monaten. Da muss man schon sehr auf Zack sein und zum Beispiel eine Stunde Fahrzeit in exotische Bezirke wie Marzahn-Hellersdorf auf sich nehmen, um dort eventuell noch einen Termin zu bekommen.
- Berlin ist unfähig einen Flughafen fertig zu bauen, ja. Seltsamerweise wickeln aber die alten Flughäfen Tegel und Schönefeld als Provisorien unproblematisch 30 Millionen Passagiere jährlich ab.
- Die Schulen sind teilweise marode und die Parks vermüllt, weil die öffentlichen Ausgaben total heruntergefahren wurden.
APA/AFP/TOBIAS SCHWARZ
Wirklich schlimm geht es aber schon seit dem Sommer am Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso), der Behörde, die für die Registrierung und Unterbringung der Flüchtlinge zuständig ist, zu. Seit Monaten warten hier Tag und Nacht Hunderte Menschen auf ihre Registrierung, auf Bescheinigungen und andere Papiere. Im Sommer gab es bei 30 Grad kein Trinkwasser, inzwischen warten die Menschen in der Nacht in Kälte und Regen, um am nächsten Tag einen Termin zu bekommen. Ehrenamtliche Helfer wurden behindert, beheizte Zelte durften bis vor wenigen Tagen aus irrsinnigen Gründen nicht geöffnet werden, ungültige Hostelgutscheine wurden ausgegeben, Menschen zu nicht existierenden Adressen losgeschickt.
Es ist eine Schande, was dort passiert. Die zuständigen Senatoren verbarrikadieren sich hinter Vorschriften. Anonyme Aussagen von Mitarbeitern brachten jetzt ans Licht, dass täglich 500 Geflüchtete einbestellt werden, wobei klar ist, dass man höchstens 200 Fälle täglich bearbeiten kann. Und es gibt tatsächlich den Job des "Suchers", der aus Aktenbergen in verschiedenen Zimmer das richtige Dokumente zu fischen hat.
APA/AFP/DPA/MICHAEL KAPPELER
Tausende von Freiwilligen fangen seit Monaten das Versagen der Verwaltung auf, besorgen Notübernachtungen, bringen Decken und warme Getränke, organisieren Wärmebusse. Bei der Initiative "Moabit hilft" ist man sich sicher, dass diese Zustände von der Politik gewollt sind.
Nun hat sogar die New York Times vom Berliner Schandfleck "Lageso" berichtet und fragt sich, wie so etwas bei den Deutschen, die doch für ihr Organisationstalent berühmt sind, passieren kann.
Die Mitarbeiter sind überfordert und verzweifelt, der Chef der Behörde musste zurücktreten, Fachleute werden gefragt: Woran liegt's ?
Es gäbe in den Ämtern eine Mentalität der Abwehr: Geht nicht, schaffen wir nicht, können wir nicht, sind wir nicht zuständig, attestierte ein Verwaltungsfachmann.
Tiefenpsychologisch wird vermutet, dass Westberlin früher jahrzehntelang am Tropf von Westdeutschland hing und Ostberlin als DDR-Vorzeigestadt ebenso vom Rest des Landes massiv unterstützt wurde, das wirke bis heute nach im Selbstverständnis. Und Berlin drücken tatsächlich Altlasten. 60 Milliarden Miese hat der Bankenskandal hinterlassen.Jahrelang hatte es geheißen, Berlin solle seinen aufgeblähten Öffentlichen Dienst mal abspecken. Das habe man zu gründlich gemacht.
Seltsamerweise aber funktionieren die Teile der Berliner Verwaltung, die dem Bürger Geld abknöpfen, Finanzamt und Ordnungsamt, ganz hervorragend...
Zur Verteidigung wird noch angeführt, dass in Berlin, im Vergleich zu kleineren Städten wie München oder Hamburg, ein permanenter Ausnahmezustand herrscht: Jeden Tag Staatsbesuch, jeden Tag ein halbes Dutzend Demos, ständig irgendwelche Fanmeilen, Sport- und Mode- "Großevents“, zu denen immer gleich Hunderttausende kommen. Dazu zieht es nicht nur jede Menge Touristen, sondern auch Hunderttausende Neubürger aus aller Welt in unsere gescheiterte Stadt.
Viele kommen und bleiben wegen des Gefühls der leichten Anarchie, das über den Straßen der Stadt liegt. Hier wundert man sich über nichts, hier kann jeder machen was er will. Deshalb ist wohl auch das Werbe-Video der Berliner Verkehrsbetriebe "Ist mir egal" ein Youtube-Hit geworden.
Und schließlich gibt es hier doch auch vieles was hier funktioniert:
- Müllabfuhr - Tip Top!
- In kaum einer Stadt kommen Polizei und Krankenwagen so schnell, wenn man sie braucht!
- Wir haben 80 Weihnachtsmärkte!
- Bundesliga-Tabellenplatz 3 für Hertha BSC!
- Silvesterfeier am Brandenburger Tor mit einer Million Besuchern
- Helene Fischer im Olympiastadion - alles logistisch gar kein Problem!