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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

13. 12. 2015 - 12:41

Die Stadt, der Klang und das Staunen

Zwei professionelle Fans bereisen die "Sound Cities" des Westens.

Lesestoff!

fm4.orf.at/buch

Die Stadt definiert die Musik, die Musik definiert die Stadt. Liverpool wäre ohne die Beatles eine heruntergekommene Hafenstadt von ehemaliger Bedeutung. Düsseldorf ein abgewracktes Industrie-Drecksloch statt Kulminationspunkt von Mode, Kunst oder Szene. Für Manchester oder Austin interessieren sich weniger Menschen als für Oasis oder Willie Nelson. Nashville ohne Country, Memphis ohne Elvis würden gar nicht in ihrer heutigen Form existieren und Seattle wäre das verregnete Kaff mit der Kaffeekette. Sie sind aber allesamt in eine kulturelle Landkarte eingeschrieben, weil sich dort irgendwann in den letzten hundert Jahren eine lebendige Musikszene gebildet hat, die für einen mehr oder weniger kurzen Augenblick die Welt gestalten durfte.

Schild "Strawberry Field" in Liverpool

CC BY-SA 3.0 by Zakke

Schild des Kinderheims "Strawberry Field" in Liverpool, von den Beatles verewigt in Songform. CC BY-SA 3.0 by Zakke
Buchcover "Sound of the Cities"

Rogner & Bernhard

Ole Löding, Philipp Krohn - "Sound of the Cities - Eine popmusikalische Entdeckungsreise", mit einem Vorwort von Tobias Levin, Rogner und Bernhard 2015, 398 Seiten

Der Journalist Philipp Krohn und der Autor Ole Löding haben diese Städte bereist. „Sound of the Cities“ heißt das Ergebnis ihrer Reise und ist unlängst im Verlag Rogner und Bernhard erschienen

Für dieses Buch wurde viel recherchiert. Für jede Stadt wurde eine "Mixtape" genannte Playlist angelegt, die möglichst das ganze Spektrum der jeweiligen Szenen durch die Jahrzehnte abbildet und auch am Ende jedes Stadtkapitels nachzulesen ist. Diese Tapes sind so eklektisch wie die Geschichte selbst: Auf dem Chicago-Tape findet sich etwa Styx neben Urge Overkill neben Curtis Mayfield. Auf dem Köln-Tape Wolke neben Blank & Jones neben Can, auf dem Birmingham-Tape Black Sabbath, Duran Duran und The Streets und so weiter. Allein diese Listen sind schon ein ordentlicher Service und zeugen vom Willen, sich diese Stadtphänomenen möglichst umfassend und offenherzig zu nähern. Dies gelingt dann auch, hauptsächlich mit historischen Abrissen und Anekdoten. Man bemühte sich, möglichst viele verschiedene Geschichten um die Szenen zu bekommen.

ein fein ziseliertes theater, durch dessen dach die sonne scheint

Yves Marchand and Romain Meffre

Detroit und seine verfallenden Ballrooms kommen in dem Buch vor.

Dazu wurden in jeder der Städte interessante Drehpunktspersonen als Interviewpartner und Stadtführer gesucht. Die mussten nicht immer die erfolgreichsten oder repräsentativsten MusikerInnen sein. PlattenverkäuferInnen, TürsteherInnen und LabelbetreiberInnen haben oft lebendigere Erinnerungen und stärkere Eindrücke als die Protagonisten selbst.

Darin liegt zugleich eine der Stärken und eine der Schwächen des Buches. Wer gerne Musikbücher liest und sich an Namedropping und Gründungsmythen erfreut, kennt vielleicht viele dieser Geschichten bereits. Weil es eben oft Gründungsmythen sind, sind viele von ihnen einfach schon zu oft erzählt worden.

Wer aber nicht schon 25 Jahre Greil Marcus-Studium hinter sich hat, den wird das Buch mit vielen netten Geschichten verwöhnen, die in einem für das Genre Popkritik selten gewordenen Ton erzählt sind, dem Ton, der hier die Musik macht. Man merkt in jeder Zeile, wie aufregend das Machen dieses Buches für die Fan-Seelen der Macher gewesen sein muss. Ihr fast kindlich gehaltenes Erstaunen über die Schönheit und Größe der Metropolen, ihre Dankbarkeit, sich an Orten aufhalten zu dürfen, an dem so Bedeutendes entstanden ist, ihre Freude, dass sich Musik-Größen auf Interviews mit ihnen einlassen, ihre Liebe zur Materie… All das wird in dem Buch stilistisch durchgehalten und macht die Reise auch für die Lesenden kurzweilig und freudvoll. Und richtige inhaltliche Fehler findet auch der professionelle Fan so gut wie keine.

Dass sie uns die ohnehin unmöglich festzumachende Antwort vorenthalten, warum gerade in bestimmten Städten ein bestimmter Sound groß wird, ist ihnen eher anzurechnen als vorzuwerfen. Zu viele Klischees wurden hier schon bemüht, die Krohn und Lödig gut umschiffen: So wird Black Sabbath und der Stahl von Birmingham oder die Industrie in Detroit und der Techno nicht in direkte Verbindung gesetzt. Den gruppenpsychologischen Ähnlichkeiten wird sich eher anekdotenhaft angenähert.

New Yorker 14. Straße in den 70er Jahren

CC BY-ND 2.0 by Guru Sno Studios on Flickr

New York in den Siebzigern - auch ein fruchtbarer Boden für Musikszenen. CC BY-ND 2.0 by Guru Sno Studios on Flickr.

Ein wenig mehr Stadtsoziologie hätte dem Buch gut getan, Philipp Krohns wirtschaftliche Kompetenz blitzt auch nur selten auf. So wird zumindest Handelswegen, wie in Liverpool und Antwerpen, Wirtschaftswunder, wie in Detroit, sozialdemokratischer Bildungspolitik und Frühförderung, wie in Stockholm, oder niedrigen Lebenserhaltungskosten und Mietpreisen, wie in Berlin nach der Wende oder New York in den Siebziger Jahren, ein Einfluss auf das Wachsen von Szenen eingeräumt.

Dass einige westliche Städte wie Paris, Antwerpen oder Birmingham nicht übertrieben spannende musikhistorische Leistungen bezeugen, sei verziehen. Mit ähnlichem Geist Harare, Istanbul oder Rio de Janeiro zu bereisen und uns den Sound nicht-westlicher Städte mit einer so angenehmen Mischung aus Kinderstaunen und enzyklopädischem Wissen näher zu bringen - das könnte eine lohnende Aufgabe für die Autoren werden. Vielleicht entdecken sie ja noch eine neue Liebe.