Erstellt am: 10. 12. 2015 - 13:25 Uhr
Es ist überall schlecht
Bis vor einigen Monaten lebte Andrej in London. Dort geschieht alles mit unglaublicher Geschwindigkeit. Laut Andrej gehen die Leute auf die Straße nicht, sondern sie rennen.
Andrej ist ein Programmierer. Ein sehr guter sogar. Andrej liebt das Programmieren, aber noch mehr liebt er schöne Mädchen. Er lief einem Mädchen nach und so kam er nach London. Dort arbeitete er von morgens bis abends. Er arbeitete sogar spät am Abend. Dabei verdiente er gutes Geld. Aber er musste wirklich bis zu zwanzig Stunden am Tag arbeiten. Eines Tages kam er nach Hause und das Mädchen war nicht mehr dort. Andrej wurde depressiv und zog nach Wien.
https://en.wikipedia.org/wiki/Vienna_University_of_Technology#/media/File:Wien,_Karlskirche_und_TU.jpg
Wien erschien ihm als eine gute Stadt, um seine Depressionen auszuleben. Da er ein guter Programmierer ist, fand er schnell Arbeit. Und ein neues Mädchen auch. Er versuchte seinen Fehler nicht zu wiederholen und nicht zwanzig Stunden am Tag zu arbeiten. Das musste er auch nicht. In Wien läuft das Leben viel langsamer. Bis vor einem Monat schimpfte Andrej über London. Jetzt schimpft er über Wien. Sein Liebesleben läuft nicht gut. Es stellte sich heraus, dass das neue Mädchen will, dass er zwanzig Stunden am Tag arbeitet. Sein Leben erscheint ihm wie ein Teufelskreis.
"Wien ist ein giftiger Ort", sagt Andrej. "Die Österreicher wollen, dass wir die Ausländer die Weinreben richten und sie pflücken nur die Trauben." Ich frage ihn, wie oft er schon Weinreben gerichtet hat. Er habe es noch nie gemacht, das sei eine Metapher gewesen. "Wien ist wie ein Apfel", Andrej hört nicht auf mit seinen Obstvergleichen. "Sie ist schön von außen, aber verfault von innen!"
Ich sage ihm, dass er nach Bulgarien zurückgehen soll, dort kann er auch gutes Geld verdienen, mehr als jeder andere. Er will gar nichts von Bulgarien wissen. Wir und noch andere Bulgaren sitzen zusammen und überlegen, wo man am besten lebt. In London, in Wien, oder vielleicht in München oder Prag?
Leute wie Andrej brauchen sich nicht zu "integrieren". Andrej spricht kein Deutsch und will es nicht lernen. Er braucht es auch nicht, die Computersprachen reichen ihm vollkommen. Er integriert sich, indem er seine Steuern zahlt. Und indem er sich über alles beschwert. Das hat er schon gut gelernt. Ich sehe mich um und bemerke, dass Andrej nicht mehr am Tisch ist. Bei uns saß noch ein Mädchen, das in Zürich lebt. Vielleicht ist Andrej schon nach Zürich gezogen. Ich bin sicher, dass Andrej auch dort unzufrieden sein wird, aber der Liebe soll man folgen.