Erstellt am: 8. 12. 2015 - 09:28 Uhr
Politische Abfuhr
Der Montag wirkt wie ein Sonntag. Viele Geschäfte haben geschlossen und in den Straßen von Caracas sind nur wenige Menschen unterwegs, die meisten aber scheinen gute Laune zu haben. Dass dieser Montag eine Art Feiertagsstimmung transportiert, ist den Parlamentswahlen vom Vortag geschuldet. Ein Tag, der in die Geschichtsbücher Venezuelas eingehen wird. Ein Tag, auf den viele Venezolaner seit Monaten gewartet und in den sie all ihre Hoffnungen gelegt hatten.
Der 6. Dezember war zugleich auch ein langer Tag. Schon in den frühen Morgenstunden standen die Menschen vor den Wahllokalen Schlange, um an den Urnen ihre Stimme abzugeben. Und obwohl in Venezuela keine Wahlpflicht besteht, gab es am Sonntag die unglaublich hohe Wahlbeteiligung von fast 75 Prozent. Das hat seine Gründe. Das venezolanische Volk nutze die Parlamentswahlen, um den politischen Führern des Landes eine klare Message auszurichten: Wir wollen Veränderung.
© Hanna Silbermayr
Parlamentsmehrheit
Seit 16 Jahren wird Venezuela von der sozialistischen Partei PSUV regiert, zuerst unter der Führung des verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez, nach dessen Tod im Frühjahr 2013 dann von seinem Wunschnachfolger Nicolás Maduro. Diesem muss aber während der letzten zwei Jahre die Kontrolle über das Land entglitten sein. Angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage, hoher Kriminalitätsraten und grassierender Korruption haben die Venezolaner darum seiner Partei - und damit auch Nicolás Maduro selbst - jetzt eine Abfuhr erteilt: Die Opposition konnte eine qualifizierte Mehrheit im venezolanischen Parlament für sich bestimmen – erstmals seit ihrem Bestehen.
Schon zuvor hatten die Umfragen aller wichtigen Meinungsforschungsinstitute auf diesen Sieg der Opposition hingedeutet. Bis zum Schluss waren sich viele Venezolaner aber unsicher, ob die Chavistas, wie die Anhänger der sozialistischen Partei genannt werden, einen solchen Sieg zulassen würden. Immerhin hatte Präsident Maduro im Vorfeld angekündigt, die „bolivarianische Revolution“ notfalls auch auf der Straße verteidigen zu wollen.
Vielleicht auch deshalb ließ sich Tibisay Lucena, die Präsidente der nationalen Wahlbehörde, mit der Bekanntgabe des Wahlergebnisses Zeit. Bereits um 18 Uhr sollten die Wahllokale schließen. Doch dann wurde der Wahlschluss um eine Stunde auf 19 Uhr, bei Schlangen vor den Wahllokalen auf nicht genauer definierte Zeit verschoben. Eine Maßnahme, die die Opposition stark kritisierte, da so in der Vergangenheit der bewaffnete Arm des Chavismus die Wahllokale übernommen und Wahlbetrug betrieben haben soll. Schon um 18.30 Uhr waren darum die Straßen von Caracas wie leergefegt. Die Venezolaner hatten Angst, dass es zu gewalttätigen Übergriffen kommen könnte.
© Hanna Silbermayr
Ohne Wahlergebnis
Bis 22 Uhr gab es kein offizielles Ergebnis von Seiten der Wahlbehörde. Je mehr Zeit verging, umso angespannter war die Stimmung in der Bevölkerung. Es gab Gerüchte über einen Putsch durch den bisherigen Parlamentspräsidenten Diosdado Cabello. Oder darüber, dass man doch noch versuchte, Stimmen für die Sozialisten herauszuschlagen.
Um knapp 23 Uhr gab die Opposition inoffiziell bekannt, dass sie 113 Parlamentssitze für sich bestimmen konnte. Von der Wahlbehörde gab es noch kein Ergebnis. Dabei gilt Venezuelas Wahlsystem als eines der modernsten weltweit. Die Stimmabgabe erfolgt elektronisch und ist relativ fälschungssicher. Darum verteilte die sozialistische Partei in der Vergangenheit angeblich falsche Personalausweise, mit denen Venezolaner doppelt oder auch Ausländer wählten. In der Provinzstadt Mérida kam es zu Protesten. Dort hatte man angeblich eine Maschine zum Druck von Personalausweisen aufgestellt. Die Uhr schlägt schließlich Mitternacht. Noch immer kein Ergebnis.
Erst eine halbe Stunde nach Mitternacht macht sich Tibisay Lucena auf den Weg zum offiziellen Pressezentrum, wo internationale Journalisten seit geschlagenen sechs Stunden auf Resultate warten. Mit zitternder Stimme verkündet sie das Wahlergebnis. Was dann folgt, hat man in Caracas und Venezuela lange nicht mehr gesehen. Aus allen Ecken ertönten in den Städten Jubelrufe, Feuerwerkskörper wurden gezündet, Musik gespielt. Es war der Schrei der Erleichterung, gemischt mit der Hoffnung auf ein besseres Venezuela, so wie es die Opposition versprochen hat. Unterdessen erschien Präsident Nicolás Maduro auf den Bildschirmen der Fernseher: Er erkennt die Entscheidung der Venezolaner an.