Erstellt am: 7. 12. 2015 - 19:33 Uhr
Hauptsache alle beleidigt
Ein irrer Messer-Attentäter hat also vorgestern in der Underground in Leytonstone wahllos auf Passagiere eingestochen und zwei davon zum Teil ziemlich schlimm verletzt. Heute stand er bereits wegen versuchten Mordes vor Gericht.
Dem derzeitigen Medien-Usus nach sollte ich das hier nun zum Kriegsakt hochstilisieren und mit schnell ergoogletem Halbwissen tiefschürfende Fragen über den Islam stellen.
Wir standen hierzulande vor zwei Jahren beim Mord am Soldaten Lee Rigby schon einmal an diesem Punkt, als David Cameron sich von zwei Irren mit einer Machete den Krieg erklären ließ.
Neulich, nach dem Blutbad in San Bernardino hab ich auf der BBC eine von vielen, vielen Analysen gehört, in der es tatsächlich hieß, der größte Alptraum wäre, wenn man keine Verbindungen zwischen dem mörderischen Amokpärchen und Daesh finden könnte.
Lieber ein organisiertes internationales Terrornetzwerk entdecken als sich der vollkommen logischen Tatsache stellen, dass unsere Medien und unser politisches Establishment eine Welt geschaffen haben, in der jede/r Wahnsinnige mit Zugang zu einem Küchenmesser sich augenblicklichen Promi-Status als Staatsfeind Nummer eins erwarten darf, solange er/sie nur beim wahllosen Herumstechen oder -schießen „Das ist für Syrien!“ brüllt.
So viel haben wir zumindest erreicht im Krieg gegen den Terrorismus, auch toll.
Was allerdings auch nicht unerwähnt bleiben darf, ist der auf einem Mitschnitt während der Festnahme des Messerstechers in der Underground-Station hörbare, seither von der New York Times bis zu David Cameron selbst gepriesene, als Hashtag viral verbreitete Ruf eines moslemischen Passanten „You ain't no muslim, bruv.“
Schlagfertig einerseits, andererseits eine Bemerkung, die sich immer noch innerhalb der mir selber als Agnostiker schon ordentlich auf den Wecker gehenden Fragestellung bewegt, ob Morden denn auch mit Frömmigkeit vereinbar sei oder nicht wahrhaftig im Widerspruch zu ihr stünde. Reicht es eigentlich nicht, dass es im Widerspruch selbst zur primitivsten Definition von Menschlichkeit steht?
Ist der Vorwurf, dass einer seine religiösen Regeln bricht, wirklich notwendig als Gegenargument zum wahllosen Leute-Erstechen?
Ich musste dabei an das Buch „Der wunde Punkt“ denken, das Kollege Thomas Edlinger neulich beim Suhrkampf-Verlag veröffentlicht hat, und in dem es neben der Kritik der Hyperkritik unter anderem auch um die Inflation des Opfernarzissmus und der Zelebrierung verletzter Gefühle geht, die in einem eigenartigen Schulterschluss von religiösem Fundamentalismus und Identity Politics zwischen Frevelpanik und Trigger Warnings zur wichtigsten aller Währungen geworden sind.
Das sieht man nicht zuletzt am politischen Diskurs der vergangenen Woche in Großbritannien.
Robert Rotifer
Wie allgemein bekannt, entschied sich das britische Unterhaus nach ein bisschen Überlegen und Kopfkratzen in der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember dafür, in Syrien mitzubombardieren, und seitdem fliegen die Jets von der Air-Force-Basis in Zypern ostwärts, um syrische Ölfelder, die unter der Kontrolle von Daesh stehen, in die Luft zu sprengen.
Allerhand Argumente kamen in der Debatte vor dem Votum zur Sprache, am leidenschaftlichsten davon jene von Labours Schattenaußenminister Hilary Benn, der einen Widerschein der moralischen Autorität seines Vaters, des großen Parlamentariers und Friedensaktivisten Tony Benn, mit sich herumträgt und offenbar unbedingt aus dessen Schatten springen musste, indem er Tonys altem Freund, dem heutigen Parteichef Jeremy Corbyn, seine Loyalität versagte. Und das mit zweckentfremdeten Argumenten direkt aus seiner politischen Kinderstube: Bomben in Syrien, das heißt keinen Fingerbreit den Faschisten.
Die beliebte Gleichsetzung von Faschismus und Daesh ist zwar bei Abwägen aller Analogien und Unterschiede doch ein bisschen irreführend, aber sie verbindet emotional, und man ist sie schon gewohnt.
Ich bin ja auch schon ein bisschen Kriegsveteran hier nach 19 Jahren, Bosnien, Afghanistan, Irak, Libyen, und ich weiß, dass sich im Feind im Zweifelsfall immer das Abbild dessen aus dem Zweiten Weltkrieg erkennen lässt, um Gegner_innen jedes Militäreinsatzes als Chamberlains hinzustellen.
Sogar die Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg zitierte Benn diesmal als Vorbilder für seine Entschlossenheit, wohl wissend, wie sehr sein Vergleich hinkt, zumal die Internationalen Brigaden zur Verteidigung einer bestehenden Republik vor einem von Luftangriffen der Nazis unterstützten, faschistischen Putsch nach Spanien reisten, während man hier die einen Gegner eines herrschenden Diktators unterstützen und die anderen vernichten will.
Um einiges komplizierter also. Und dabei wurde selbst in Spanien, wie in populärem Film und Buch reichlich thematisiert, auch auf Seiten der Republikaner ein alles andere als moralisch unbefleckter Krieg geführt.
Wenn überhaupt, dann wäre der Spanische Bürgerkrieg also eher ein glänzendes Beispiel dafür gewesen, dass es selbst bei einer eindeutig guten Sache das Ideal des gänzlich guten Kriegseinsatzes nicht gibt.
Dessen ungeachtet, ließen sich also 66 Labour-Abgeordnete – soweit sie nicht schon vorher auf seiner Seite waren – von Benns Brandrede mitreißen und stimmten gegen ihren Parteichef, sowie laut Umfragen gegen 75 Prozent ihrer Parteibasis, ja sogar gegen die Mehrheit der Gesamtbevölkerung für die Bomben.
Und das war auch ihr gutes Recht, schließlich erlaubte Corbyn seinen Abgeordneten ausdrücklich eine freie Abstimmung (alles andere hätte zu einer endgültigen Spaltung der Parlamentsfraktion geführt). Sie sollten daher zuallererst nicht der Parteidisziplin oder Umfragen, sondern ihrer Überzeugung folgen.
Genauso legitim waren aber auch die Proteste jener Labour-Party-Mitglieder – darunter die linke Pressure Group Momentum –, die daraufhin erwartungsgemäß vehemente Emails und Briefe an Abgeordnete schickten, die für die Bombardements stimmten bzw. in sozialen Medien oder auf der Straße ihrem Unmut Ausdruck gaben.
Medial wird das allerdings nun schon seit einer Woche so dargestellt, als wäre die Friedensbewegung ein mit Heugabeln wedelnder Lynchmob.
In den Morgennachrichten am Tag nach der Abstimmung beschwerte sich etwa die Abgeordnete Ann Coffey im BBC-Radio mit zitternder Stimme, Parteimitglieder hätten gedroht, ihr bei der nächsten Wahl das Mandat zu entziehen. Ja, dürfen's denn des?
Ferner wurde berichtet, ein wilder Haufen von Protestierer_innen habe sich vor dem Haus der Abgeordneten Stella Creasy zusammengerottet (dass sie für die Bombardements gestimmt hatte, verärgerte so manche Bewohner_innen der in Hipster-Kreisen selbstironisch Awesomestow genannten Vorstadt, zumal Creasy bisher als Feministin, Kämpferin gegen Kredithaie und bekennender Fan von The Wedding Present quasi der Indie-Popstar der Labour-Parlamentsfraktion gewesen war).
Parteivize und Clash-Fan Tom Watson, der als guter Tommy Gun ebenfalls The Call-Up zum Syrien-Krieg gefolgt war, forderte gar nicht so punk-mäßig bereits den Parteiausschluss aller, die gegen Creasys Abstimmverhalten protestiert hatten. Working for the Clampdown.
Im Nachhinein stellte sich dann jedoch heraus, dass der vermeintliche Mob vor dem Parteilokal demonstriert und als Geste des Protests an dessen Türen Post-it-Zettel hinterlassen hatte - im Spektrum der Sachbeschädigungen wohl eher doch die Kategorie Vanilla (Die Bedroher_innen fühlen sich jetzt natürlich ihrerseits von Watson bedroht).
Am Wochenende wiederum ließ der Abgeordnete Simon Danczuk die Presse wissen, dass er sich von einer angeblichen Morddrohung eines linken Aktivisten auf Facebook eingeschüchtert fühle. Die Parteiführung, sagte er, habe die Situation nicht im Griff, sie schüre sie de facto sogar. Die vielen Konjunktive setze ich hier, weil Danczuk, wie die Elefanten sich erinnern, auch derjenige war, der vor Monaten, als sich Jeremy Corbyns Wahl zum Parteivorsitzenden abzeichnete, erst einen Abbruch des Wahlvorgangs verlangte und dann öffentlich ankündigte, er werde im Falle von Corbyns Wahl vom ersten Tag weg an dessen Sturz arbeiten. Wer sowas sagt, wirkt dann halt bald mal unseriös.
So wie auch die konservative Abgeordnete Lucy Allan, die nach Berichten einer ähnlichen Todesdrohung inzwischen zugeben musste, dass sie zu einem von ihr als Evidenz von Einschüchterung und Bedrohung veröffentlichten Facebook-Postings selber ein bisschen was dazu erfunden hatte. Die Todesdrohung selbst nämlich.
Im Original las sich die Zuschrift so:
„Schauen Sie, ich weiß, dass Sie wahrscheinlich bloß ein Roboter sind oder zumindest eine Person, die von der Wirklichkeit so entfremdet ist, dass Sie kein Mitgefühl für irgendjemand außer Ihren superreichen Kumpels empfinden, aber an irgendeinem Punkt müssen Sie doch auch Emotionen für andere Menschen empfunden haben.
Falls Sie sich nicht den 'vollen Cameron’ verpassen lassen haben, der sie zur leeren Schale eines menschlichen Wesens macht, in der nichts als Gift und Boshaftigkeit gegenüber allen drin ist, die weniger haben als Sie, in welchem Fall es keine Hoffnung gibt.“
„Außer Sie sterben“, dichtete Allan dazu und veröffentlichte die Message auf ihrem Facebook-Profil.
Jemand anderer habe ihr das am selben Tag geschrieben, verteidigt sich Allan nun. Sie habe die zwei Messages bloß zusammengefasst, „um die Art von inakzeptablen Beschimpfungen zu zeigen, die alltäglich hereinkommen, und die die meisten Leute leise hinnehmen.“
Dass sie den Vornamen des Posters veröffentlicht habe, tue nichts zur Sache, der Name hätte genauso erfunden sein können.
War er aber nicht. Und es erklärt auch nicht ganz, warum sie in ihrer Version der Message das Wort „wahrscheinlich“ vor „bloß ein Roboter“ weglöschen musste.
Na ja.
Was alles in allem erstaunt, ist die demonstrative Dünnhäutigkeit dieser Politiker_innen, dieser Drang von Leuten, die doch eine gewisse Macht ausüben, sich als Opfer des Pöbels darzustellen. Die Zurschaustellung ihrer Verletzung gerade zu einem Zeitpunkt, wo in Syrien echte Bomben, deren Abwurf sie gut geheißen haben, echte Menschen töten.
So etwas lässt sich natürlich moralisch argumentieren und begründen. Sogar mit den Worten Hilary Benns, wenn man sich davon überzeugen lässt.
Aber es sollte auch mit einer gewissen Perspektive einhergehen.
Ja, man wurde beleidigt. Böse angesprochen. Man hat, wie berichtet, makabere Bilder von toten Babys und Geköpften zugeschickt bekommen. Vielleicht wurde einem sogar der Tod an den Hals gewünscht. Oder - noch ärger - das Ende der politischen Karriere.
Aber es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel, sich in einem Bombentrichter wiederzufinden. Dessen sollte man sich als Bombardierungsbefürworter_in schon bewusst sein.
Und dasselbe gilt ja auch in die andere Richtung:
Am Tag vor der der Abstimmung im Unterhaus hatte David Cameron seinen Parteikolleg_innen in der konservativen Fraktion bekanntlich dringlich davon abgeraten, „mit Jeremy Corbyn und den Terrorsympathisanten“ zu stimmen.
In der Parlamentsdebatte wurde der Premier dann von Corbyn selbst und anderen empörten Abgeordneten gezählte zwölf Mal aufgefordert, sich für diese Ausdrucksweise zu entschuldigen. Erfolglos.
Dabei ist das ja aber auch nicht der Punkt. Es ist vollkommen egal, ob Jeremy Corbyn oder irgendwelche sonstigen Unterhausabgeordneten sich von Cameron verunglimpft fühlen.
Wen kümmert seine Entschuldigung?
Wer fordert im 21. Jahrhundert noch auf der Blutwiese Genugtuung für seine Ehre?
Wer fühlt sich noch ernsthaft von einem verletzt, der in engen Situationen stets vorhersehbar über die Stränge schlägt und sagt, was immer ihm gerade in den politischen Kram passt?
Wo es doch vielmehr darum geht, dass Cameron - wie so viele andere Poseure und Poseusen in politischen Ämtern und Redaktionen auch - mit seiner sinn- und verantwortungslosen Zuspitzung alle, die nicht für das Bombardement Syriens sind, also die Mehrheit (!) der Bevölkerung, völlig sinnlos ins andere Lager stellt und somit fahrlässig riskiert, dass irgendein Psychopath, der U-Bahn fahren und ein Messer halten kann, ihm das am Ende auch wirklich glaubt.
Die selbe alte, destruktive "You're with us or with the terrorists"-Leier eben, die nun schon seit Jahrzehnten alles beharrlich immer noch ein bisschen hoffnungsloser macht, als es eh schon ist. Und dazu noch die allerärgste aller Beleidigungen, nämlich die unser aller Intelligenz.