Erstellt am: 10. 12. 2015 - 11:57 Uhr
Der Hardcore-Humanist
Ein hypernervöser Endzwanziger, der sein Geld mit dubiosen Immobilienspekulationen verdient und sich emotional von seinem verwahrlosten Vater erpressen lässt, rast durch den Pariser Alltag. Ein introvertierter junger Häftling wird von gnadenlosen Gangs, die den Gefängnishof kontrollieren, zu einem Mord gezwungen. Ein arbeitsloser Ex-Boxer, der kaum seinen fünfjährigen Sohn ernähren kann, lässt sich in illegalen Straßenkämpfen malträtieren. Und dann ist das schließlich ein srilankischer Soldat, der dem Bürgerkrieg in seiner sonnenverbrannten Heimat mit falscher Identität ins eisige Paris entflieht.
Filmladen
Nahe am echten und komplizierten Leben
Die männlichen Protagonisten in Jacques Audiards Filmen sind Gefangene, manchmal auch ganz wortwörtlich, eingekerkert in maskuline Rollenbilder, in Geschlechterklischees, in ihre triste Umgebung oder auch ganz wortwörtlich in einem Hochsicherheitstrakt. Im Gegensatz zu den Antihelden des Mainstreamkinos biedern sich diese Figuren aber nicht mit bestimmten Verhaltensweisen an das Publikum an. Ganz im Gegenteil. Über weite Strecken wirken sie asozial, getrieben, verschlossen, bisweilen feindlich.
Man folgt diesen beschädigten Kerlen aber dennoch auf ihren dunklen Pfaden. Weil man ahnt, dass man am Ende der Reise nicht für dumm verkauft wird, so wie in unzähligen Hollywood-Streifen, wo dann plötzlich grundsätzlich bessere Menschen im strahlenden Lichtschein stehen.
Gleichzeitig suhlt sich der Regisseur und Autor Audiard aber auch nicht in auswegslosem Pessimissmus, wie etwa sein Kollege Lars von Trier. Seine groben Außenseiter versuchen sich letztlich inmitten von Härte, Tod und Raubtier-Kapitalismus eine bestimmte Menschlichkeit, sogar eine Zärtlichkeit zu erkämpfen. Das muss nicht immer gelingen, aber dem mittlerweile 63-jährigen Franzosen geht es um kleine Lernprozesse, vorsichtige Schritte. Wer sich bei all den gezeigten Anstrengungen an das echte, komplizierte, pulsierende Leben erinnert fühlt, liegt nicht falsch.
Sony
Symphonien aus Bildern, Tönen, Fleisch und Blut
Dieser Glaube an die Hoffnung und bis zu einem gewissen Grad an einen Hauch von Erlösung gehört zu den kontroversen Facetten im Schaffen des Jacques Audiard. Schließlich leben wir in Zeiten eines allgegenwärtigen Zynismus und da ist bei einigen Kritikern schnell von finalem Kitsch die Rede, während Menschen wie der Schreiber dieser Zeilen am Ende oft mit Tränen ringen.
Es sind jedenfalls Frauen, denen sich die entscheidenden Wendungen in Meisterwerken wie „De battre mon coeur s'est arrêté“ (Der wilde Schlag meines Herzens, 2005) oder „Un prophète“ (2009) verdanken, aber Audiard präsentiert sie nicht als simple Love-Interests oder edle Heilige, die auf den rechten Weg führen.
Die weiblichen Figuren, allen voran Marion Cotillards zentraler störrischer Charakter im mitreißenden Beziehungsdrama „De rouille et d'os“ (Der Geschmack von Rost und Knochen, 2012), zeigen einfach andere Möglichkeiten die Welt zu sehen. Führen den manchmal fast autistisch wirkenden Männern deutlich ihre Grenzen vor. Stehen für Alternativen zum Machismo-Abgrund.
Auf jeden Fall brechen bis zum Ausbruch aus der Testosteron-Hölle jede Menge Knochen, es fließt Angstschweiß und die Anspannung ist in jeder Filmminute spürbar. Jacques Audiards Erzählungen entwickeln einen unglaublichen physisch spürbaren Sog, er verpackt die Geschichten von verwundeten, verletzten, versehrten Menschen in Symphonien aus Bildern, Tönen, Fleisch und Blut. Dieses pure Körperkino verschafft ihm als Filmemacher einen von Preisen gekrönten Sonderstatus im europäischen Filmgeschehen, etablierte Audiard als leidenschaftliche Gegenstimme zu strengen Regiepuristen, die das Drama scheuen.
Polyfilm
Sympathien mit der falschen Familie
Wenn sich nun der Spezialist für emotionale Erschütterungen, der auch soziale Brandherde stets in seinen Filmen aufflackern ließ, dezitiert der Flüchtlingsthematik nähert, bekommt man es im Vorfeld beinahe mit der Angst zu tun. Erwartet man sich doch in gewisser Weise malträtiert das Kino zu verlassen. Aber „Dheepan“, in den Hauptrollen mit Laiendarstellern besetzt, verzichtet über weite Strecken auf die heftigen Inszenierungs-Strategien bisheriger Jacques-Audiard-Streifen.
In einem Prolog lernen wir eine Immigranten-Familie aus Sri Lanka kennen, die nur auf dem Papier existiert, um die französischen Einwanderungsbehörden zu täuschen. Außer Traumatisierungen haben der Mann, die Frau und das Kind nichts gemeinsam, die gemeinsam versuchen dem Krieg in ihrem Heimatland zu entkommen. Mit gefälschten Reisepässen im fernen Paris gelandet, gilt es den Schwindel geschickt aufrecht zu erhalten.
Während rechtskonservative Hetzer in diesem Szenario wohl alle ihre Ressentiments bestätigt sehen, steht Jacques Audiard natürlich auf der Seite seiner falschen Familie. In einer desolaten Vorstadtsiedlung angekommen, reißen die Spannungen nicht ab. Einerseits köcheln die Gefühle in der Flüchtlings-Wohnung hoch, denn die Kluft zwischen den drei konträren Menschen aus Sri Lanka ist groß. Zum anderen entpuppen sich die Banlieues ebenfalls als Kriegsschauplatz. Befeindete Jugendgangs liefern sich tödliche Kämpfe um Drogen und Waffen.
Filmladen
Blutbäder und Utopien
Für seine Verhältnisse dermaßen reserviert erzählt Monsieur Audiard zunächst diese Geschichte, dass man sich wirklich fragt, ob der Regisseur angesichts der brisanten Flüchtlingsthematik eine neue Zurückhaltung pflegt. Just in dem Moment, wo man die drastischen Stimmungswechsel seiner vorigen Filme aber gar nicht mehr erwartet, wird der Tonfall von „Dheepan“ dringlicher, hält im letzten Drittel das schmerzhafte Körperkino dann doch Einzug.
Der sensible Titelheld, ein Hausmeister, auf den alle herabblicken, erinnert sich inmitten des urbanen Chaos an seine Vergangenheit als tamilischer Krieger. Schüsse peitschen durch die tristen Sozialbauten, aus dem Immigranten-Drama schält sich ein brutaler Thriller.
Selbst als Fan des Regisseurs muss man zugegeben, dass die kleine, zwischenmenschliche Utopie, die dem Blutbad danach entspringt, diesmal tatsächlich aufgesetzt daherkommt und „Dheepan – Dämonen und Wunder“ insgesamt etwas zerrissen anmutet. Ein etwas schwächerer Streifen des Hardcore-Humanisten Jacques Audiard ist allerdings immer noch ein Pflichtfilm im aktuellen Kinoangebot.