Erstellt am: 4. 12. 2015 - 11:04 Uhr
Me and Earl and the Dying Girl
Alle essentiellen Informationen trägt diese US-Indie-Dramödie von Regisseur Alfonso Gomez-Rejon bereits im Titel – und zwar über den unübersehbaren Spoiler hinaus. Denn nicht nur das Schicksal einer Figur wird hier vorweggenommen, sondern es wird auch ganz klar etabliert, dass „Me“ hier die Hauptperson ist. Earl und erst recht das im Titel nicht mal benamste Girl dienen dem Ich-Erzähler vorrangig als Katalysatoren für sein Coming of Age. Böse sein kann man diesem mit leichter Hand erzählten und mit allerlei liebevollen Details angereicherten Film darob aber nicht.
Fox Searchlight
Greg, ein US-Mittelstandskid, ist in seinem letzten High-School-Jahr. Als etwas ungelenker, überdurchschnittlich intelligenter Nerd eigentlich zum Prügelknaben prädestiniert, hat er sich eine clevere Überlebensstrategie zurechtgelegt, um unbehelligt durch die Hölle High School zu kommen: sich von allen sozialen Gruppen gerade so viel Stallgeruch aneignen, dass sie ihn als – wenn auch nur am Rande – zugehörig akzeptieren, aber sich nur ja von niemandem vereinnahmen lassen. Gregs Widerwillen gegen Bindungen jeder Art geht sogar so weit, dass er seinen besten Kumpel Earl nicht als Freund, sondern als „Kollegen“ bezeichnet. Technisch gesehen nicht ganz unrichtig: Die beiden drehen miteinander Parodien von Filmklassikern mit albernen Titeln wie „A Sockwork Orange“ oder „Don’t Look Now, Because a Creepy-Ass Dwarf is About to Kill You!!! Damn“. Die Liebe zum Kino haben sie von Gregs bademanteltragendem Professorenvater (Nick „Ron Swanson“ Offerman), der genau drei Leidenschaften zu haben scheint: ebengenannte Filmklassiker, exotische Küche und seinen Hauskater namens Cat Stevens.
Fox Searchlight
Spätestens jetzt könnte man meinen, so viel niedlich verschrobene Indiefilm-Schrulligkeit müsste einen schreiend aus dem Kino treiben. Dafür ist „Me and Earl and the Dying Girl” aber viel zu lustig und gut getimed – und schrammt gekonnt an so ziemlich allen Kitschfallen vorbei, sodass man ihm das großzügige Schöpfen aus dem Emotionen-Topf gegen Ende gerne nachsieht. Sehr erfrischend ist, dass gleich am Anfang klargestellt wird: Wer eine Romanze erwartet, hat sich in der Tür geirrt. Greg und Earl und die an Leukämie erkrankte gleichaltrige Rachel verbindet eine Freundschaft, deren drohender Verlust um nichts weniger tragisch ist als jegliche dem Untergang geweihte Liebesgeschichte.
Greg will eigentlich nichts mit Rachel, die er nur flüchtig aus der Schule kennt, zu tun haben („That sucks…“ ist sein mäßig empathischer Kommentar, als er von der Krebserkrankung Rachels erfährt), wird aber von seiner Mutter gezwungen, Zeit mit ihr zu verbringen. Greg reagiert, wie jeder Teenager reagiert, wenn seine Eltern ihn zu etwas kriegen wollen: mit Abscheu und Abwehr. Nur unter größtem Protest und unter Androhung von Strafen geht er zu Rachel, um ihr seine Gesellschaft anzubieten („I’m actually here because my mom is making me“); diese ist auch nicht gerade begeistert davon, ihre plötzlich kostbare Zeit mit diesem Freak verbringen zu müssen, nur weil ihre Mütter einander kennen. Dass sich aus dieser Zwangsfreundschaft bald eine echte ergibt, ist eh klar; aber eine bloße Freundschaft wäre noch nicht genug, um Greg, diesem Meister der sorgfältig kultivierten Unverbindlichkeit, einen Entwicklungsschub zu verpassen, der sich gewaschen hat. Der im Hintergrund lauernde Tod ist denn auch dramaturgisch weniger für Rachels Abgang zuständig als für den kräftigen Tritt in den Hintern, den Greg braucht, um sein Leben auf die Reihe zu kriegen.
Anne Marie Fox
Abseits des wundervollen Scripts (von Autor Jesse Andrews, der seinen eigenen Roman für die Leinwand adaptiert hat) ist der Film randvoll mit bildkompositorischen Preziosen, die an Wes Anderson, aber fast mehr noch an Richard Kellys „Donnie Darko“ erinnern. Ob die Kamera von oben das Gewusel auf dem Schulvorplatz einfängt, sich durch die herrlich durchchoreographierten Szenen in Korridoren oder Kantine schlängelt oder statisch von Rachels Augenhöhe vom obersten Ende der Treppe auf den linkisch unten herumstehenden Greg herabblickt, jede Einstellung unterstreicht perfekt die Aussage der jeweiligen Szene und trägt so zu dem wohligen Gefühl bei, sich in diesem Film zuhause und vielleicht sogar verstanden zu fühlen. Die animierten Sequenzen mit handgemachten Figuren sind einen Tick zu twee und indiemäßig; hübsch anzusehen, aber man hat das Gefühl, sich unversehens in ein Michel-Gondry-Video verirrt zu haben.
Ein wenig ungerecht ist es, wenn man den Film für etwas kritisiert, was vermutlich eher der Buchvorlage anzulasten wäre: Ja, Earl ist der schwarze Sidekick vom Ghetto um die Ecke, dessen Freundschaft mit Greg diesem mehr Konturen verleiht als ihm selbst. Und auch dying girl Rachel dient hauptsächlich der Entwicklung des männlichen Protagonisten. Dieser Makel ist sich der Film selbst durchaus bewusst, er setzt sie sogar als dramaturgisches Mittel ein, geht es doch beim Teenager-Sein genau darum: Die ganze Welt dreht sich um einen selbst - bis man draufkommt, dass dem nicht so ist.
Klar: Das ist schon wieder ein Film über die Probleme eines weißen, männlichen Mittelstandskids. Aber wenn wir diesem Genre tatsächlich zu Leibe rücken wollen, dann gibt es doch wohl jede Menge Filme, die die Axt eher verdienen als ausgerechnet das herzerwärmende Kleinod „Me and Earl and the Dying Girl“.