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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

2. 12. 2015 - 14:00

Die bekannte Unbekannte

Wo hab ich die Frau mit den riesigen Lachfalten schon einmal gesehen?

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.

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Jeder von euch hat schon jemanden getroffen, den man kennt, aber man weiß nicht genau woher. Dann lässt man all die Gesichter, die man in Erinnerung hat, vor seinem inneren Auge vorbeispazieren: alle Mitschüler aus der Volksschule, die Nachbarn in allen Wohnungen, die man bewohnt hat, die Verwandten der Ex-Freundin. Danach kommt man schließlich drauf, dass der Mensch, den ihr seit fünf Minuten anstarrt, der Verkäufer von der Tankstelle nebenan ist. Ihr tankt dort regelmäßig, aber der Mann erscheint euch fremd ohne seine Uniform und Aufhänger mit Namen auf seiner Brust. Er ist der „bekannte Unbekannte“.

Stand am Weihnachtsmarkt

APA/BARBARA GINDL

Genau so was ist mir neulich auf dem Weihnachtsmarkt am Wiener Karlsplatz passiert. Ich folgte mit dem Blick einer Frau, die mir so bekannt vorkam, mir fiel aber nicht ein, woher ich sie kenne. Nein, mein Interesse kam nicht von ihrer besonderen Schönheit oder Jugend. Sie war eine über 50-jährige Frau mit riesigen Falten um den Mund. Solche Falten haben normalerweise Menschen, die die ganze Zeit lächeln. Dieses Mal lächelte sie nicht, aber ihr ganzes Wesen strahlte eine unendliche Energie aus.

Sie flog von Stand zu Stand und schaute sich alle ausgestellten Waren gründlich an. Ich dachte immer, dass Menschen, die auf Weihnachtsmärkte gehen, nur kommen, um Glühwein zu saufen. Die Waren auf den Ständen habe ich immer nur als Deko zum Punsch betrachtet. Die heißen Maroni haben vielleicht eine praktische Verwendung, aber wer kauft sich schon Türme aus aufgespießten runden Steinen oder polierte Hörner von allen möglichen Viechern? Wenn man alle diese Hörner verkaufen würde, würde kein einziger Haushalt in Wien ohne Hörner bleiben. Da ja Touristen aus aller Welt auf die Weihnachtsmärkte kommen, bedeutet, dass eine gewisse Zahl von Hörnern es sogar bis nach Japan schafft.

„Die bekannte Unbekannte“, der ich wie gebannt folgte, hielt bei jedem Stand an. Mit dem Blick eines Kenners betrachtete sie die Waren. Sie fasste jeden aufgespießten Stein und jedes Horn an. Am Ende hielt sie vor einem Stand, wo Schraubenzieher, Zangen und allerlei Werkzeug aus Schokolade verkauft wurden. Während ich mich noch wunderte, wer sich wohl Werkzeug aus Schokolade kauft, wählte die Dame einen Schraubenzieher. Sie verhandelte kurz über den Preis und steckte schließlich den Schraubenzieher aus Schokolade in ihre Handtasche. Danach schenkte sie dem Verkäufer ein blendendes Lächeln. In diesem Moment fiel mir ein, wer sie ist. Das war doch Frau Ilic! Ich wusste ihren Namen ganz genau, da ich es schon hunderte Mal geschrieben gesehen habe. Auf dem Anstecker ihrer Uniform im „Zielpunkt“ nebenan. Daher kamen auch ihre Falten – sie musste hunderte Male am Tag ihre Kunden an der Kasse anlächeln, jahrelang.

Ich dachte kurz nach, dass ich noch nie mit ihr gesprochen habe, außer das übliche „Hallo“ und „Auf Wiedersehen“. Wem schenkt sie wohl diesen Schokoladenschraubenzieher? Ihr Name lässt vermuten, dass sie ursprünglich vom Balkan kommt. So wie übrigens die meisten Mitarbeiter im „Zielpunkt“ nebenan. Jetzt sind all diese Leute ohne Job. Man weiß nicht, wann sie ihre Novembergehälter bekommen und vom Weihnachtsgeld wird gar nicht gesprochen. Ich wollte Frau Ilic sagen, dass ich sie kenne und mein Mitgefühl zeigen. Währenddessen sang George Michael sein ewiges „Last Christmas“. Bald wird auch Macaulay Culkin wieder „Allein zu Haus“ sein. Hoffentlich bleibt Frau Ilic nicht allein. Während ich daran dachte, verschwand sie rasch in der Menge.