Erstellt am: 28. 11. 2015 - 03:24 Uhr
Ludische Weltreisen
Die Welt war früher größer. Ab Ende des 17. Jahrhunderts waren die meisten Orte dieser Welt zwar bekannt, aber sie in einer Lebenszeit zu bereisen stand für so gut wie alle Menschen außer Frage. Zu mühselig, teuer, gefährlich und langwierig wäre das gewesen. Erst zur Zeit der Industrialisierung war das Erkunden und Entdecken von fremden Ländern und Regionen ("In 80 Tagen um die Welt") in greifbarer Reichweite - wenngleich es noch eine Weile lang ein kühnes Unterfangen geblieben ist.
Deshalb hat man bis Mitte des 20. Jahrhunderts das Reisen oft der Vorstellungskraft überlassen. Was dabei gut hilft, sind Geschichten, die man erzählt bekommt oder sich selbst ausdenkt. Fährt man im aufgeschlagenen Atlas mit dem Finger über Landkarten, kann man die Welt vom Wohnzimmer aus bereisen. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, und damit diese Abenteuer auch wirklich aufregend werden, brauchen wir Inspiration und Anregung.
Brandstätter
Besser als mit bloßen Landkarten funktioniert das mit Landkarten, die mit zusätzlichen Anekdoten, Figuren und Erzählungen bereichert sind. Deshalb waren Karten beliebt, die nicht nur bestaunt und betastet, sondern auch bespielt werden konnten. 63 solcher spielbaren Landkarten hat der Wiener Kulturwissenschaftler, Spielexperte und Angewandten-Professor Ernst Strouhal zusammengetragen und in einem sehr aufwendig gestalteten Buch namens "Die Welt im Spiel" veröffentlicht. Wir entdecken dabei Städte, Länder, wundersame Fahrzeuge, das Weltall und schließlich uns selbst. Das Spielprinzip ist bei den meisten dieser Spiele sehr ähnlich: es basiert am sogenannten Gänsespiel, wo man sich mit seiner Figur durch die einzelnen Spielfelder würfelt.
Brandstätter
"Die Welt im Spiel" ist Buch und Spielbrett in einem. Und nicht nur das: zu jedem der 63 abgedruckten Spiele gibt es auch Anleitungen und Anmerkungen von Ernst Strouhal. Man kann beide Teile des Buches nebeneinander öffnen: rechts schlägt man das jeweilige Spiel immer auf einer Doppelseite auf. Links blättert man sich zum dazugehörigen Regelwerk. Dann braucht es nur noch ein paar kleine Figuren, Würfel und mindestens zwei entdeckungsfreudige Spieler/innen.
Intensive Recherche
"Die Welt im Spiel" von Ernst Strouhal ist im Verlag Brandstätter in Zusammenarbeit mit der Angewandten Wien erschienen.
Über 1000 historische Spiele haben Ernst Strouhal und sein Team in akribischer Recherche und Kleinarbeit ausfindig gemacht und in eine Datenbank zusammengetragen. Sie stammen aus Europa, den USA und Japan und decken einen Zeitraum vom späten 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert ab. Dienten die Gänsespiele zunächst hauptsächlich dem Stillen des Fernwehs und der Reisesehnsucht, wurden sie später zu Werkzeugen der bürgerlichen Gesellschaft, die Anstand und Bildung über Spiele vermittelt haben. Danach folgte der zunächst utopische und später real gewordende, ermächtigende Aufbruch ins Weltall. Den Endpunkt setzt "Die Welt im Spiel" bei Versuchen, sich dem Leben und der Liebe, der Moral und der Metaphysik spielerisch, also in gewisser Weise unschuldig, zu nähern.
Brandstätter
Das Buch ist ein herrlicher Blickfang: alleine in den detailreichen, kleinteiligen Abbildungen kann man sich lange verlieren. Die ungewöhnliche Mischung aus interaktiver Narration und simplen spielerischen Elementen erzeugt aus heutiger Sicht unorthodoxe Erfahrungen. Es lässt eine kleine Ahnung von der "Pragmatik des Spielens", wie es Ernst Strouhal nennt, zu - also wie die Menschen diese Spiele zur jeweiligen Zeit gespielt und wahrgenommen haben könnten. Strouhal ist leidenschaftlicher Kulturforscher, der im Spiel bzw. im spielenden Menschen eine Abbildung der Gesellschaft und des jeweiligen Kulturkreises erkennt und analysiert. Seine Recherchen sind tiefgreifend, seine Beobachtungen pointiert. "Die Welt im Spiel" ist ein wunderbarer Hybrid aus Kulturgeschichte, historischen Landkarten und ludischer Welteroberung.
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