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Todor Ovtcharov

Der Low-Life Experte

25. 11. 2015 - 15:04

Die Wunder des Kapitalismus

Meine Bekannte betreut bulgarische Obdachlose. Wenn es zu wenig davon gibt, wird ihr Vertrag nicht verlängert. Sie tut mir Leid, aber man kann sich ja auch nicht mehr Obdachlose wünschen.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov. Im Radio und auch als Podcast zum Anhören.

"Die Leiden des jungen Todor"
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Die Mittelklasse ist der Träger der kapitalistischen Gesellschaft. Je mehr Computer sie kauft, desto mehr Geld verdienen Apple und Microsoft. Je mehr Menschen gesund leben wollen, desto mehr Bio-Produkte werden hergestellt.

Vielleicht habt ihr sie nicht bemerkt, aber es gibt Menschen, die auf der Straße wohnen. Vielleicht hat sie jemand von euch beobachtet, wie sie ihre Ecke in Parks, U-Bahn Stationen oder Baustellen aussuchen. Ich habe mal so einen Menschen beobachtet, der eine Schlafstelle direkt vor einem Juweliergeschäft gefunden hatte. Es war schon dunkel und hinter ihm leuchtete das Geschäft mit seinen Golduhren und Edelsteinen. Der Mann lag vor dem Eingang wie Ali Baba vor seiner Höhle. Als bräuchte er nur "Sesam, öffne dich!" zu sagen. Aber er tat es nicht. Vielleicht weil er gerade mit dem Essen eines Kebabs beschäftigt war.

Zelt eines Obdachlosen

CC-BY-2.0 / Dierk Schaefer - flickr.com/dierkschaefer

Viele der Straßenbewohner suchen die Hilfe von Sozialeinrichtungen, die ihnen im Winter einen Schlafplatz geben können. Eine Freundin von mir arbeitet in einer solchen Organisation. Sie hilft EU-Bürgern, in dem sie sie mit einem Schlafplatz versorgt, oder ein Ticket nach Hause kauft. Die meisten Obdachlosen, die bei der Organisation Hilfe suchen, sind aus Rumänien, dann kommen die Ungarn, die Polen, die Slowaken und erst dann die Bulgaren. Am seltensten kommen Obdachlose aus Holland.

Dass vergleichsweise wenige Bulgaren eine Notschlafstelle in Österreich suchen, sollte gut für mein nationales Selbstbewusstsein sein. Aber für meine Bekannte, die speziell für sie zuständig ist, ist das schlecht. Denn so geht es im Kapitalismus: Wenn es keine bulgarischen Obdachlosen gibt, dann wird auch meine Bekannte nicht gebraucht und ihr Vertrag wird nicht verlängert. Sie tut mir Leid, aber man kann sich natürlich auch nicht mehr Obdachlose aus Bulgarien wünschen. Das ist so, als ob ich mir mehr kranke Menschen wünsche, damit die Pharmaindustrie mehr verdient.

Ich frage sie, ob man nicht irgendetwas machen kann, damit der gleiche Obdachlose mehrmals kommt. Das ginge nicht, denn er darf dort nur für kurze Zeit schlafen und dann wird ein Ticket für die Heimreise gekauft. Wer schon eine Heimreise bezahlt bekommen hat, darf nichts mehr verlangen. Ein Teufelskreis!

Das Leben dieser Menschen sei - so sagt meine Bekannte - auch ein Teufelskreis: Sie kommen nach Österreich, weil sie in ihrem Heimatland keinen Job haben. Hier können sie aber die Sprache nicht und können keinen Job kriegen. Dadurch kommunizieren sie nur mit Menschen, die ein ähnliches Schicksal haben. Ihre Chancen für eine Integration in der Gesellschaft betragen gleich null.

Ich schlage meiner Bekannten vor, nach bulgarischen Obdachlosen für sie Ausschau zu halten. Ich bin ja der low-life-Experte. Sie sieht mich lächelnd an: Ich hätte gar nichts mit low-life zu tun. Im Vergleich zu ihren Kunden wäre ich schon in der Mittelklasse. Der Kapitalismus ist voll mit Wundern!