Erstellt am: 25. 11. 2015 - 15:09 Uhr
Unbegleitete Kinderflüchtlinge in Österreich
Licht ins Dunkel
FM4 unterstützt heuer im Rahmen von Licht ins Dunkel die drei Georg Danzer Häuser in Wiener Neustadt und in Wien, wo unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht nur wohnen, sondern in einem familiären Umfeld leben und lernen. Mehr dazu hier.
Auch das RadioKulturhaus unterstützt im Rahmen von Licht ins Dunkel das Georg Danzer Haus – u.a. mit dem SCHWARZWEISSMALEREI-Kalender
Das jüngste Flüchtlingskind, das allein in Österreich angekommen ist und mit dem Katharina Glawischnig zu tun hatte, war fünf Jahre alt. Momentan sind die jüngsten Flüchtlinge sieben. Katharina Glawischnig weiß, wie es Flüchtlingskindern hierzulande geht. Sie arbeitet für die Asylkoordination Österreich. Das ist ein Dachverband der österreichischen Asyl-NGOs.
6175 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben zwischen Jänner und September diesen Jahres einen Antrag auf Asyl in Österreich gestellt. Unter ihnen sind 380 Kinder unter vierzehn Jahren. Insgesamt machen die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge - kurz: UMF - elf Prozent von allen aus, die hierzulande einen Asylantrag gestellt haben.
Katharina Glawischnig erklärt im Interview, wie es diesen Kinderflüchtlingen und jugendlichen Flüchtlingen geht.
Wer ist für diese Kinder zuständig? Wer kümmert sich um sie?
Ab dem Moment, in dem das Kind einen Asylantrag in Österreich stellt, wird das Innenministerium zuständig für die Unterbringung. Wenn klar ist, dass Österreich das Verfahren dieses Kindes führen wird, dann sollte das Kind in die Grundversorgung der Bundesländer aufgenommen werden und die Kinder- und Jugendhilfe wird verantwortlich.
Während das Kind noch in Bundesbetreuung ist, hält sich die Kinder- und Jugendhilfe großteils heraus - auch wenn klar ist, dass es um ein Kind geht und das Innenministerium nicht die Kompetenz hat, mit Kindern umzugehen.
Asylkoordination Österreich
Katharina Glawischnig ist zuständig für Flüchtlingskinder, speziell für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (kurz UMF). Sie koordiniert das Netzwerk der Betreuungsstellen für UMF und ist darüber hinaus in regelmäßigem Kontakt mit österreichischen Einrichtungen, die jugendliche Flüchtlinge ohne Eltern betreuen.
In Wien hat Katharina ein Pflegeeltern-Modell für UMF unter 14 Jahren angeregt.
Das heißt jetzt jeden Tag für die Kinder, die in Österreich unbegleitet angekommen sind,
dass sie z.B. in Leoben in einem ehemaligen Fachmarkt untergebracht sind und dort sitzen?
Ja: Sitzen und warten. Die Kinder kommen in der Hoffnung, in Sicherheit zu sein und ein besseres Leben als zu Hause zu führen. Stattdessen werden sie erstmal in Erstaufnahmequartiere gesteckt, die in keiner Form kindergerecht sind oder für Kinder und Jugendliche adäquat ausgestattet sind. Sie können keine Ausbildung machen. Sie sind vielfach auf sich allein gestellt.
Das ändert sich erst, wenn die Kinder und Jugendlichen in die Grundversorgung zugewiesen werden. Ab dem Moment haben sie eine dichtere Betreuung, können einen Deutschkurs besuchen und in die Schule gehen. Aber dieser Prozess, bis sie wirklich ankommen können, kann bis zu zehn Monate dauern. Das sind zehn Monate Unsicherheit.
Das Asylverfahren dauert dann teilweise noch bis zu zwei Jahre. Erst dann bekommen sie die endgültige Entscheidung, ob sie in Österreich Asyl oder subsidären Schutz bekommen und hierbleiben dürfen.
Sind Ihnen Fälle bekannt von UMF, die Asyl in Österreich beantragten und die abgeschoben wurden?
In den letzten drei Jahren gab es österreichweit keinen Fall, wo ein Kind abgeschoben wurde. D.h., dass sie im Rahmen ihrer Minderjährigkeit geschützt sind. Wenn sie 18 werden, sind sie volljährig. Wenn jemand mit 17 1/2 kommt, wissen wir nicht, ob das Asylverfahren bis 18 abgeschlossen sein wird. Was mit dem 18- oder 19-Jährigen passiert, können wir nicht nachverfolgen. Dazu gibt es keine Aufzeichnungen. Insofern kann es sein, dass jemand als UMF kommt, aber trotzdem nicht bleiben können wird.
Ein großes Problem ist, dass UMF in Österreich nicht den österreichischen Kindern gleichgestellt sind. Sie werden quasi als halbe Kinder behandelt. Bedeutet, dass man in sie weniger Ressourcen investiert als in österreichische Kinder.
FM4 / Pamela Russmann
Und das beruht auf Regierungsbeschlüssen oder woher kommt diese Unterscheidung?
Diese Unterscheidung fußt darin, dass man sie als Flüchtlingskinder betrachtet anstatt als Kinderflüchtlinge. Sie werden primär als Flüchtlinge betrachtet und so die Kompetenzen in einem anderen sozialen Bereich verortet als für Kinder.
Wir haben in unserem Sozialsystem die Grundversorgung, die für Flüchtlinge zuständig ist, und die Kinder- und Jugendhilfe. Hier haben wir eine Überschneidung: Wir haben Kinder, die auch Flüchtlinge sind. Deswegen gibt es da auch weniger Standards, als wenn sie als Kinder gesehen würden. Das ist die traurige Wahrheit.
Die meisten unbegleiteten Flüchtlingskinder und -jugendlichen kamen dieses Jahr aus Afghanistan, 4000 waren es 2015 bisher. Gefolgt von Kindern aus Syrian und dem Irak.
Afrikanische Länder sind jetzt ein wenig aus dem Blickpunkt der Öffentlichkeit gekommen. In diesem Jahr haben 206 UMF aus Somalia Asyl in Österreich beantragt.
Welche Bezugspersonen haben UMF?
Am Anfang keine. Wenn sie in die Grundversorgung kommen, gibt es ein BezugsbetreuerInnensystem: jeder Jugendliche bekommt einen Bezugsbetreuer / eine Betreuerin zugewiesen. Die Kinder werden in der Grundversorgung 24 Stunden sieben Tage die Woche betreut. Sehr schön ist es, wenn es österreichische Ehrenamtliche gibt, die mithelfen. Oft gibt es Patenschaftsprojekte: ÖsterreicherInnen unternehmen mit den Kindern Freizeitaktivitäten oder helfen ihnen beim Lernen. Diese Bezugspersonen erweitern auch das Netzwerk des Kindes.
Jetzt bedeutet unbegleitet und minderjährig nach Österreich geflohen zu sein ja nicht, dass jemand Vollwaise ist. Die Kinder haben eventuell noch Eltern. Wie ist es, wenn ich als ÖsterreicherIn die Obsorge für so ein Kind übernehmen möchte?
Die Obsorge zu übernehmen würde ich nicht empfehlen, dadurch ist man Eltern gleichgestellt in allen Rechten und Pflichten. Sinnvoll finde ich es, dass UMF als Pflegekinder aufgenommen werden dürfen. Da gibt es momentan Pilotprojekte. In Wien sind dreißig Kinder in Familien aufgenommen worden. Die Obsorge bleibt bei der Kinder- und Jugendhilfe. Die Obsorge besteht aus drei Teilbereichen: Pflege und Erziehung, Vermögensverwaltung und der gesetzlichen Vertretung. Die Kinder- und Jugendhilfe ist verantwortlich, mit dem Kind das Asylverfahren zu führen und sie lagert die Pflege und Erziehung in die Pflegefamilie aus.
Die Kinder lernen schneller Deutsch, lernen das österreichische Leben kennen und werden Teil der österreichischen Gesellschaft. Und das wirkt sich durchaus auf das Asylverfahren aus. Im ersten Schritt wird geprüft, ob ein Kind Asyl bekommt. In einem zweiten Punkt, wenn Asyl abgelehnt wird, wird geprüft, ob vielleicht subsidiärer Schutz gegeben wird. Und wenn auch der nicht gegeben wird, schaut man sich das Recht des Kindes auf Privat- und Familienleben an. Da wird abgewogen zwischen privaten (sich hier integriert und ein Interesse am Leben hier zu haben) und staatlichem Interesse (geregeltes Einwanderungssystem).
Wie schaut es aus, wenn ein Kind noch Eltern hat und diese Eltern die Flucht auch bis nach Österreich schaffen?
Kommen die Eltern während des laufenden Asylverfahrens nach, ist es möglich, dass das Kind zu den Eltern zieht. Dann erhalten die Eltern wieder die Obsorge. Das ist aber in den seltensten Fällen so. In zehn Prozent der Fälle schaffen es Jugendliche, ihre Eltern im Rahmen einer Familienzusammenführung nachzuholen. Das bedeutet: Wenn die Jugendlichen Asyl oder subsidiären Schutz bekommen, können ihre Eltern bei einer österreichischen Botschaft einen Antrag auf Einreise stellen und in Zukunft den gleichen Status bekommen wie ihr Kind.
Dieser Antrag der Eltern kann nur solange gestellt werden, bis das Kind unter 18 ist. Vor kurzem gab es eine Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs: Die Einreise der Eltern ist nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes möglich. D.h., diese Familienzusammenführung muss bis dahin abgeschlossen sein. Und die Eltern müssen Dokumente haben. Haben sie keine, können sie keinen Antrag stellen, dann kann ihre Identität nicht nachgewiesen werden. Das kann oft schwierig sein: Befindet man sich selbst als Flüchtling in einem Nachbarland und hat nicht die Möglichkeit, die Dokumente zu beschaffen, wird man daran scheitern. Die Kosten sind auch zu beachten: DNA-Tests und die Einreise - also die Flugtickets - müssen finanziert werden.
Zur Familienzusammenführung ist derzeit ein Gesetzesentwurf in Begutachtung, bei dem ist angedacht, dass die Familie erst nach drei Jahren nachgeholt werden kann. Man darf also maximal vierzehn Jahre alt sein, um die Familie überhaupt nachholen zu können. Es gibt Kinder, die planen, ihre Familie nachzuholen. Aber es gibt noch viel mehr Kinder, die geflüchtet, sind, weil sie selber in Gefahr sind und die nicht den primären Gedanken haben, die Eltern nachzuholen. Ich möchte diese sogenannte "Ankerkinder"-Diskussion von vornherein unterbinden. Das ist nicht die Realität.
FM4 / Pamela Russmann
Wie wirken sich die derzeitigen Ankünfte von Flüchtlingen im Bereich der UMF aus?
Das Chaos im UMF-Bereich hat im Sommer 2014 begonnen. Damals waren alle Betreuungsstellen belegt. Es gab keine Kapazität mehr, Jugendliche aus der Bundesbetreuung in die Grundversorgung aufzunehmen. Im Sommer 2014 waren 400 Jugendliche in Traiskirchen untergebracht, mit dem Jahreswechsel waren es 900 Jugendliche. Wir sind momentan bei ca. 2500 Jugendlichen, die sich in nicht-adäquaten Quartieren befinden und für die es eine Lösung braucht. Da waren die letzten Monate eigentlich eine Entspannung, weil sehr viele nach Deutschland weitergereist sind und dadurch sind die Zahlen nicht weiter gestiegen. Es braucht weitere Quartiere.
Nicht adäquat - das klingt so "na eh". Was heißt das im schlimmsten Fall?
Unter nicht-adäquat kann man sich Traiskirchen vorstellen, dort sind derzeit 1500 unbegleitete Jugendliche untergebracht. Nicht adäquat bedeutet aber jede Form der Unterbringung, bei der zuviele Kinder auf einem Haufen betreut werden. Weil da der direkte Kontakt gar nicht mehr hergestellt werden kann. Nicht adäquat bedeutet auch, dass sich Kinder teilweise in Notquartieren befinden, dass sie sich dort über einen längeren Zeitraum aufhalten müssen. Alles, was zu groß ist, ist für Kinder ungeeignet.
Aber das ist scheinbar etwas, was in Österreich nicht möglich ist, viele kleine Quartiere zu finden. Das liegt aber auch am Tagsatz. Hätten wir einen höheren Tagsatz, wäre das leichter. Der Tagsatz finanziert immer nur den aktuellen Belag. D.h., wenn ich eine Einrichtung eröffnen möchte, muss ich zuerst einmal sehr viel Geld investieren. Umbaukosten, Personalkosten, die teilweise vorzustrecken sind.
MitarbeiterInnen sowohl von NGOs als auch vom Unternehmen ORS behaupten, dass ein "Run" auf die Betreuungsgruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge entstanden sei, weil man mit ihnen am meisten Geld verdienen könne.
Das kann ich nicht bestätigen. Da geht es nicht um Gewinne, sondern darum, Verluste auszugleichen, die man mit dem Beginn der Einrichtung für UMF hat. Die Regierung hat im Sommer angekündigt, den Tagsatz für UMF von 77 Euro auf 95 Euro zu erhöhen. Das hat Träger durchaus motiviert, neue Einrichtungen zu schaffen. De facto haben wir den neuen Tagsatz noch nicht. Das liegt wiederum daran, dass sich einige Bundesländer sperren, die sogenannte 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern zu unterschreiben.
Von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ist auch, welche Bildung jugendliche Flüchtlinge erhalten können.
UMF unter 15 Jahren sind schulpflichtig. Die Über-15-Jährigen bekommen aus der Grundversorgung ein sogenanntes Bildungsbudget: 200 Stunden Deutschkurse werden bezahlt. Aus Erfahrung weiß man aber, dass man 600 Stunden Unterricht benötigt, um die Sprache ausreichend zu erlernen.
Nach einem Deutschkurs besuchen viele einen Basis- und Alphabetisierungskurs und anschließend den Pflichtschulabschlusskurs. Haben sie den Pflichtschulabschluss, beginnt häufig die Suche nach einer Lehrstelle. Bei den Lehrstellen gibt es insofern ein Problem, als dass es in jedem Bundesland eine Liste gibt mit Lehrberufen, die von den Kindern begonnen werden dürfen. Es ist schwierig, einen Lehrherr zu finden, der einen aufnimmt, wenn man Flüchtling ist. Und ist eine Lehrstelle gefunden, wird ein sechswöchiges Ersatzkräfteverfahren geführt: Es wird geschaut, ob sich nicht ein Österreicher / eine Österreicherin findet, die den Lehrplatz annehmen wollen würde. Ist dem nicht der Fall, kann der junge Flüchtling mit seiner Lehrausbildung beginnen.
Ob ein Jugendlicher eine höher bildende Schule besuchen kann, liegt meist am Direktor, ob er dieses Kind aufnimmt. Es ist für eine Schule sicher kein Problem, einen Einzelnen aufzunehmen. Gibt es aber in einem Ort ein Quartier mit vierzig Jugendlichen, wird die Schule sagen, es tut uns leid, aber vierzig können wir jetzt nicht auf einmal einschulen.
Gibt es eine Instanz, die kontrolliert, wie insgesamt in der Betreuung mit diesen Kindern umgegangen wird?
Eine direkte Überprüfungsinstanz gibt es nicht. Es gibt die Kinder- und Jugendhilfe. Die Volksanwaltschaft kontrolliert regelmäßig Einrichtungen. Eine geeignete Ombudsstelle für diese Kinder gibt es aber nicht. Ich würde mir für alle Kinder in Österreich einen Monitoring-Mechanismus wünschen. In Deutschland hat vor kurzem die Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention eröffnet.