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Daniela Derntl

Diggin' Diversity

23. 11. 2015 - 18:26

Eine Welt, wie sie Grimes gefällt

Grimes ist der DIY-Popstar der Stunde – emanzipiert und experimentierfreudig, vielseitig und visionär. Hier gibt's Illustrationen vom und jede Menge Gossip über den FM4 Artist of the Week.

Grimes ist ein Gesamtkunstwerk, eine Kunstfigur, bei der die 27-jährige Claire Boucher alle Fäden in alter Punk-DIY-Manier fest im Griff hat. Sie macht die Musik vollkommen in Eigenregie und entwirft auch ihr sehr starkes, visuelles Image - sei es in Videos, Bühnenauftritten, Styling oder Artwork - selbst. Jedem Song auf "Art Angels" hat sie eine Illustration zur Seite gestellt:

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Alle Synapsen platzen
Auf "Visions" brummt eine absurde Fantasie-Musik, in der Pop aus dem Kaugummi-Automaten und Goth-Elektronik Geschwister sind.

1. Laughing and not being Normal

Grimes

Grimes' Selbstbestimmung und Selbstermächtigung ist eine starke, weil seltene Geste in der männlich-dominierten Musik-Industrie, mit der sie seit der Veröffentlichung ihres extrem erfolgreichen und lange nachwirkenden Albums "Visions" im Jahr 2012 so einige Probleme hat. Viele ihrer Postings auf Twitter oder Tumblr, das ihr als Mood-Board dient, waren Seiten wie Pitchfork einen Artikel wert, Interview-Aussagen wurden aus dem Zusammenhang gerissen, jeder ihrer Schritte kommentiert. Ihre Wut auf die Presse kanalisiert sie in dem Diss-Track "California":

The things they see in me, I cannot see myself
When you get bored of me, I’ll be back on the shelf

2. California

Grimes

Der "Visions"-Hype und das endlose Touren haben sie, die in ihrer Hyperaktivität schon mal auf Essen und Schlafen vergisst, physisch und psychisch vollkommen ausgelaugt. 2013 war sie laut einem Interview mit TheFader so fertig, dass sie kurz davor war, die Kunstfigur Grimes zu zerstören, bevor Grimes Claire Boucher zerstört.

Doch stattdessen ist sie für ein halbes Jahr in die Einsamkeit einer Waldhütte in Squamish, British Columbia gezogen. Dort wollte sie Ruhe finden und neue Songs aufnehmen, die Demo-Version von "REALiti" ist dort entstanden. Es ist der einzige Track, der es aus dieser Schaffensphase auf das neue Album "Art Angels" geschafft hat. Die anderen hat sie verworfen, weil sie ihr im Nachhinein zu düster und depressiv waren. Mit diesen Gefühlen konnte sie nach ihrem Umzug ins sonnige Los Angeles nichts mehr anfangen.

Deshalb hat sie kurzerhand noch einmal von vorne begonnen, das Spielen "richtiger" Instrumente - wie der vorher verschmähten Gitarre, Geige und Ukulele - gelernt und den knallig bunten Bubblegum-Pop von "Art Angels" Schicht für Schicht zusammengetackert und mit Glitzer lackiert.

3. Scream feat. Aristophanes

Grimes

In ihrem Klangkosmos hat sie, ungleich anderen schillernden Gesamtkunstwerken wie Lady Gaga oder Madonna, selbst das Sagen. Auf die eingebildeten und sexistischen Tontechniker der großen Studios verzichtet sie gerne, wie sie im TheFader-Interview erzählt:

"Going into studios, there’s all these engineers there, and they don’t let you touch the equipment,” she says. “I was like, ‘Well, can I just edit my vocals?’ And they’d be like ‘No, just tell us what to do, and we’ll do it.’ And then a male producer would come in, and he’d be allowed to do it. It was so sexist. I was, like, aghast. It made me really disillusioned with the music industry. It made me realize what I was doing is important."

4. Flesh without Blood

Grimes

Claire Boucher taucht gerne in ihre bunten Fantasiewelten ab, doch das heißt nicht, dass sie vor weltlichen Dingen wie Politik und Umweltschutz die Augen verschließt. Ganz im Gegenteil: Sie hat einen eigenen Hospitality Rider in dem sie um Plastik-freies Catering bittet.

Die sommerliche ALS-Ice-Bucket-Challenge hat sie aus Umweltschutzgründen abgelehnt – sie wollte einfach kein Wasser verschwenden, was gerade in den Sommermonaten in Kalifornien, wo sie jetzt lebt, ein knappes Gut ist. Geld hat sie laut eigenen Angaben trotzdem gespendet – allerdings nicht an die ALS-Initiative, weil diese angeblich auch Tierversuche unternimmt, was für Grimes als große Tierfreundin natürlich gar nicht geht.

Die gebürtige Kanadierin hat ihre Fans auch zum Wählen aufgerufen und sich dabei gegen die Konservative Partei in Kanada ausgesprochen.

Sie ist eben keine, die sich ein Blatt vor dem Mund nimmt.

5. Belly of the Beat

Grimes

Claire Boucher besitzt nicht nur ein immenses kreatives Talent, sondern auch einen sehr klugen Kopf: Sie hat Philosophie, Elektroakustik und Neurowissenschaft studiert – und wollte ursprünglich Astrophysikerin werden. Ihre Vorliebe für Mathematik, knifflige technische Problemstellungen und die als Ballettschülerin antrainierte Disziplin haben ihr dann auch beim Produzieren geholfen, wie sie dem Musikexpress erzählt:

"Für mich war Technik immer ein schöner Nervenkitzel. Ich liebe es, nach Lösungen für verzwickte Probleme zu suchen."

6. Kill Vs. Maim

Grimes

Die Kunstfigur Grimes hat laut Claire Boucher ein Ablaufdatum. Jetzt ist sie 27, mit 30 möchte sie dem Tour- und Publicitystress den Rücken kehren.

Sie will nicht so enden wie Madonna, die, wie sie in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagt, nicht gelernt hat, rechtzeitig abzutreten. Viel lieber wäre sie eine Produzenten-Eminenz im Hintergrund – wie Phil Spector.

7. Art Angels (Albumcover)

Art Angels Album Cover

Grimes

Das Netzwerk für eine Karriere als Produzentin hat sie bereits: Aktuell steht Grimes für noch eine weitere Platte bei dem renommierten Label 4AD unter Vertrag, dann ist sie frei für neue Abenteuer. Um das Management kümmert sich mittlerweile Jay-Zs Agentur Roc Nation.
Der nimmt zwar ihre Ambitionen als Produzentin durchzustarten nicht wirklich ernst, wird es aber früher oder später zur Kenntnis nehmen müssen.

Alleine mit ihrem Freundeskreis könnten schon ein paar spannende Platten entstehen: Ihr Ex-Freund ist Devon Welsh, besser bekannt als Majical Cloudz. Gute Freunde sind auch Megan James und Corin Roddick alias Purity Ring sowie Chris d’Eon, mit dem sie vor Jahren eine Split-EP geteilt hat und auch in einem seiner Videos seine Haare gegessen hat.

Chris Tucker aka Blood Diamonds ist ebenfalls ein Verbündeter. Mit ihm hat sie die Single "Go" produziert, deren kommerzielle Dubstep-Schlagseite von ihren Fans nicht unbedingt positiv aufgenommen wurde. Dabei war die Nummer gar nicht für sie selbst, sondern für Rihanna gedacht. Nachdem RiRi den Song dann doch nicht verwendet hat, haben Grimes und Blood Diamond ihn kurzerhand selbst veröffentlicht.

8. Easily

Grimes

Über Chris Tucker aka Blood Diamond hat sie auch ihren aktuellen Freund James Brooks kennengelernt. Er macht als "Elite Gymnastics" und "Default Genders" ebenfalls Musik und ist eine wichtige Stütze im Grimes-Universum, wie sie im TheFader-Interview erzählt:

"He gets me up in the morning; he brings me breakfast in bed; he brings me coffee. He makes sure I eat. He’s not a housewife, but I wouldn’t be able to do this without somebody helping me with all the ‘life’ stuff. Everyone I’ve ever dated before this, there got to be a point where it would be like I had to either be less successful or break up with them. He’s not in the management team, but he does so much shit - like if I need something researched, if I need to know if something’s a bad idea or a good idea. If I’m Khaleesi in Game of Thrones, he’s like Tyrion. If I’m the Godfather, he’s the consigliere."

9. Pin

Grimes

Apropos "The Godfahter": Der Song "Kill Vs. Maim" ist aus der Perspektive von Al Pacino in "The Godfather II" geschrieben – wobei er in diesem Fall ein Vampir sei, der sein Geschlecht verändern und durch Raum und Zeit reisen kann. Kann das bitte jemand verfilmen?

Und Stichwort Khaleesi: Grimes' Versuche, auf Dothraki zu Rappen sind gescheitert. Deshalb hat die taiwanesische Musikerin Aristophanes auf "Scream" den Rap-Part übernommen.

10. Realiti

Grimes

Grimes hat Aristophanes auf Soundcloud entdeckt – und obwohl die beiden Frauen sich nicht "in REALiti" kennen, teilen sie die Wut auf die männerdominierte Musikwelt, von der sie oft belächelt werden – und diesen Groll hört man auch auf dem von K-Pop-infiltrierten Nu-Metal-Track, der Durchaus ein Anwärter für den nächsten Quentin-Tarantino-Streifen ist.

11. World Princess Part II

Grimes

Grimes Faible für asiatische Musik macht sich nicht nur auf "Scream", sondern auch bei einem der Hits des Albums "Kill Vs. Maim", bemerkbar. Ihre Affinität zu knalligem K-Pop entstand bereits während ihrer Schulzeit in Vancouver, wo sie mit der lokalen japanischen und taiwanesischen Community in Berührung gekommen ist.

12. Venus Fly feat. Janellae Monae

Grimes

Dass diese Musik in gepflegten Indie-Kreisen als uncool oder maximal als "ironisch cool" gilt, ist ihr zum Glück herzlich egal. Groß ist ihre Liebe für 90-Jahre Pop-Stars wie Mariah Carey, Enya und Sinaed O’Connor, flankiert von den Industrial und Gothic-Epigonen jener Zeit – allen voran Nine Inch Nails und Marilyn Manson. Sein Poster hing in ihrem Kinderzimmer direkt neben dem von Britney Spears – was anschaulich den musikalischen Referenzrahmen von Grimes illustriert. Wobei "Art Angels" viel mehr Britney Spears als Marilyn Manson – im besten aller Sinne – ist.

13. Life in the Vivid Dream

Grimes

Ihrer gänzlich unironischen Leidenschaft für vermeintlich uncoole Musiker und Musikerinnen zollt sie auch bei ihren DJ-Gigs Tribut.

Ihr Set bei der Boiler-Room-Pool-Party von Richie Hawtin in Ibiza ist 2013 wohl in die Annalen der DJ-Topchecker-Plattform eingegangen, denn dort hat Grimes ein Set abgeliefert, das humorlosen Zeitgenossen und Musik-Polizisten ziemlich sauer aufgestoßen ist.

Manche sagen, es war ein Publicity-Stunt und Verarsche, während Grimes selbst twitterte, dass sie Nichts daran "ironisch meine".

Wie dem auch sei, die Playlist klingt angesichts des Ernsts der Lage höchst amüsant – und ist wohl auch deshalb nicht "in the mix" im Netz zu finden: The Ramones, Taylor Swift, Skrillex, Mariah Carey’s "All I Want For Christmas Is You" im Hochsommer und als ultimativen Burner mit Lokalkolorit – Venga Boys mit "We’re Going to Ibiza".

14. Butterfly

Grimes