Erstellt am: 20. 11. 2015 - 16:19 Uhr
Ein Dorf voll Retter
Im Hafen des kleinen Fischerdörfchens Skala Sykamias bereitet sich Christian für eine weitere nächtliche Fahrt aufs Meer vor. Das Schlauchboot hat er selbst mit Hilfe von Spenden gekauft. Der Mann mit der Stirnlampe, die über eine schwarze Fischermütze gespannt ist, und seiner gelben, wasserdichten Anglerkluft ist eigentlich IT-Experte aus Österreich. Monatelang hat er fassungslos Berichte über ertrunkene Flüchtlinge in der Ägäis gelesen. Dann hat er sich entschlossen selbst etwas zu tun, ist nach Lesbos gefahren, hat die Initiativa sos-med.eu gegründet und setzt nun seine Kenntnisse als Skipper für die Rettung von Flüchtenden aus Seenot ein.
Salinia Stroux
In seinem etwa 5-Meter langen Boot befinden sich mehrere Rettungsringe. Er fährt hauptsächlich die felsige nördliche Küste von Lesbos entlang, um den Flüchtlingsbooten zu helfen, die dort oft in Not geraten. Gleich am zweiten Tag nach seiner Ankunft hat er zusammen mit zwei Helferinnen ein Baby aus einem Flüchtlingsboot, das auf den Felsen landete, sicher mit seinem Boot in den nahen Hafen gebracht. An Land gab es später ein freudiges Wiedersehen mit den Eltern. „So eine Aktion in der Nacht ist keine einfache Sache“, erklärt er. „Die Küstenwache könnte auftauchen. Es ist dann etwas kompliziert, zu erklären, warum man sich gerade da aufhält“, sagt er. Auch das Auffinden der Flüchtlingsboote ist nicht immer ungefährlich und birgt Gefahren für Unfälle. „Sie tauchen manchmal plötzlich aus dem Nichts auf, weil sie nicht beleuchtet sind.“
Ähnlich wie Christian sind auch viele andere freiwillige HelferInnen im Norden der Insel Lesbos unterwegs. Einige sind Profis, andere sehen sich zum ersten Mal mit solchen Notsituationen konfrontiert.
Haupteingangstor nach Europa
Die griechische Insel Lesbos ist nach wie vor das Haupteingangstor für Flüchtlinge nach Europa, auch wenn im Winter die Ankunftszahlen überall sinken. Die Fliehenden sind gezwungen, in die oft seeuntauglichen und überladenen Schlauchboote zu steigen, weil ihnen durch die EU-Politik eine legale Einreise verwehrt wird.
Salinia Stroux
Im ansonsten sehr malerischen Fischerdorf Skala Sykamias kommen täglich dutzende Flüchtlingsboote an. Die Schönheit des Ortes wird in den letzten Monaten jedoch durch die Tragik der vielfachen Bootsunglücke stark getrübt. Hunderte orangene Schwimmwesten pflastern die Strände und Felsen. Sie erinnern an die tausenden Neuangekommenen und ihre gefährliche Überfahrt. Viele dieser Westen sind rettungsuntauglich. Einige haben Inschriften ihrer Träger und sind für den Notfall mit Namen und Kontaktdaten ihrer Verwandten versehen. Einen staatlich organisierten Rettungsdienst gibt es nicht.
Salinia Stroux
Seit September, nachdem das Bild des toten Flüchtlingskinds Aylan Kurdi am Strand von Bodrum in der Türkei die Welt bewegte, sind an der etwa 17 Kilometer langen Küste immer mehr ehrenamtliche RetterInnen und HelferInnen aus der ganzen Welt aktiv geworden. Sie halten mit Ferngläsern Ausschau nach ankommenden Booten, um den Schutzsuchenden in kritischen Momenten zu helfen. Mit Rettungsschiffen und Jetskis versuchen sie täglich in Kooperation mit den staatlichen Behörden, einheimischen Fischern sowie griechischen RettungsschwimmerInnen und AktivistInnen, weitere Opfer zu vermeiden.
Salinia Stroux
So auch an diesem Abend. Ein völlig überladenes Flüchtlingsboot erreicht den Strand. Freiwillige Rettungsschwimmer der spanischen NGO Proactiva Open Arms springen ins Wasser und halten den hinteren Teil des Bootes fest, damit die Flüchtlinge sicher austeigen können. „Wir müssen jede Minute wachsam sein, damit während der Ankunft kein Unfall passiert. Dies kann auch bei gutem Wetter vorkommen”, erklärt der spanische Rettungsschwimmer Miguel.
Salinia Stroux
Eine ältere Frau sinkt erschöpft auf den Strand. Ihr ganzer Körper zittert. Eine Ärztin einer israelischen NGO eilt ihr zur Seite. Sie reicht ihr eine Rettungsdecke und versucht mit ihr zu kommunizieren. „Farsi? Arabi?“, fragt die junge Ärztin. Die Frau ist alleine unterwegs, sagt Αmir, ein junger Mann aus Afghanistan, der zusammen mit ihr und anderen 50 Flüchtlingen die lebensgefährliche Reise über die Ägäis überlebt hat. Mehr als vier Stunden waren sie auf dem Wasser, bis sie die griechische Küste erreichten. „Wir hatten viele Probleme. Das Wetter war gut, aber das Meer ist sehr gefährlich. Es war sehr schwierig, aber Gott sein Dank haben wir es geschafft“, sagt er.
Salinia Stroux
Die Frau wird mit dem Auto zu einer provisorischen Aufnahmestelle unweit des Strandes gebracht, die komplett von Freiwilligen erhalten wird. Rayyan, ein junger Mann aus Malaysia kocht dort zusammen mit griechischen AktivistInnen und übereicht den Neuankömmlingen mit einem warmen Lächeln asiatische Suppe. In der Aufnahmestelle befindet sich ein blauer Bus, in dem mehrere ÄrztInnen 24 Stunden lang Erste Hilfe leisten. Austin aus Irland, der als Freiwilliger bei einem Rettungsdienst tätig ist, erklärt den Zustand, in dem sich die Flüchtlinge oft befinden, wenn sie am Strand ankommen. „Sie sind sehr aufgeregt, stark dehydriert und außerdem müde, hungrig und durstig. Wir geben ihnen Nahrung und Wasser und versuchen, sie zu beruhigen.”
Was bringt die Zukunft?
Simon Jürgens, ein Notarzt aus Berlin, der 10 Tage seiner Freizeit der freiwilligen Hilfe in Lesbos widmet, macht sich Sorgen über das, was diesen Menschen noch bevor steht. „Wenn sich jetzt das Wetter ändert wenn es anfängt, zu stürmen... Die Menschen haben so einen weiten Weg vor sich durch die Balkanroute und sind nicht darauf vorbereitet.“
Daniel, ein anderer freiwilliger Arzt ist vor zwei Tagen aus London gekommen. Der 25 jährige Mann hat Wurzeln in Bangladesch. Sein Vater wanderte nach England aus, als er 14 Jahre alt war. Daniel ist bereits in England zur Welt gekommen. Als er in den Medien von einem britischen Paar hörte, das den Flüchtlingen auf Lesbos hilft, hat er sich entschlossen, sich auch hier zu engagieren. Wichtig ist, seiner Meinung nach, nicht nur was internationale Helfer auf Lesbos und anderen Inseln machen, sondern auch, wie die BürgerInnen in den Ländern wo diese Menschen Schutz suchen reagieren. „Es gibt sicher viele Hindernisse, z.B. die Bürokratie und Politik, die sich den Menschen in den Weg stellen. Aber es liegt an uns, den BürgerInnen dieser Länder, diese Menschen willkommen zu heißen, sie aufzunehmen und zu integrieren”, so Daniel.
Salinia Stroux
"Ich konnte nicht tatenlos zuschauen"
In unmittelbarer Nähe der ersten Aufnahmestelle arbeitet die Hilfsinitiative „Light-House“, benannt nach dem Leuchtturm des Fischerdorfes. Es ist eine Initiative von AktivistInnen aus Schweden, England und Norwegen. Ältere Menschen und Familien mit Kindern können sich hier in kleinen Zelten ausruhen, bevor sie in die offiziellen Registrierungslager gebracht werden. Karolin, eine 19-jährige Dänin, übereicht den Flüchtlingen trockene Kleider und verteilt unter den Kindern Milch. Sie erklärt, was sie dazu gebracht hat, sich seit mehreren Wochen freiwillig für den Empfang der Flüchtlinge einzusetzen. „Bevor ich hierher kam, war ich sehr frustriert über die Art, wie wir in Europa mit Flüchtlingen umgehen, die in unsere Länder fliehen. Ich konnte nicht einfach tatenlos zuschauen.”
Am Strand befindet sich auch Quiva, eine freiwillige Rettungsassistentin aus Irland, und wartet auf das nächste Boot. Ihre Hose ist nass, weil sie vor kurzem zusammen mit anderen RetterInnen Flüchtlingen aus dem Wasser geholfen hat. Im Boot saßen mehrere Yesiden, Hazaren und Menschen anderer Ethnien, die von den Dschihadisten verfolgt werden. Die Helferin kritisiert die negative Stimmung gegen die Flüchtlinge, die nach den Terroranschlägen in Paris von einigen Medien geschürt wurde. „Jeder, der in Würde und Freiheit leben will, flieht vor den Dschihadisten. Ich denke also, es ist zynisch und heuchlerisch, die Terroranschläge in Paris als Vorwand zu nutzen um den Flüchtlingen den Weg zu versperren."
"Es wäre nicht unbedingt notwendig..."
Auch die zivile Seenotrettung Seawatch, die seit Juni 2015 Flüchtlingsbooten in Not hilft, befindet sich mit einem 7,5 Meter langen Festrumpfschlauchboot gerade auf Lesbos. Crewmitglied Ruben Neugebauer schaut auf das dunkle Meer und die Lichter der gegenüberliegenden türkischen Küste. Er wünscht sich, der Einsatz der RetterInnen hier und auf den anderen Inseln der Ägäis wäre gar nicht erst nötig. „Es wäre nicht unbedingt notwendig, hier überhaupt Seenotrettung zu leisten oder zumindest in diesem Ausmaß, wenn man die Möglichkeiten hätte, legal nach Europa zu kommen und Asyl zu beantragen. Solange aber diese Menschen weiter auf die Boote gezwungen werden, sind wir hier und versuchen unser Bestes zu geben.“
Salinia Stroux
Angesichts des bevorstehenden Winters plant der UN-Flüchtlingsrat zusammen mit anderen HelferInnen und NGOs sechs weitere Aufnahmestellen an strategischen Punkten entlang der Nordküste fertigzustellen, wo den Neunangekommenen humanitäre Hilfe geboten werden kann. Ziel ist auch, eine bessere Koordination zwischen den verschiedenen NGOs und Gruppen herzustellen.
Der Fischer Stratis, 40, beobachtet mit Erstaunen das geschäftige Wimmeln der vielen großen NGOs, die erst seit kurzem aufgetaucht sind, um Präsenz zu zeigen. Erst nach etlichen Pressefotos von ertrunkenen Flüchtlingskindern und Berichten über den Einsatz dutzender einheimischer und internationaler HelferInnen sind sie nach Lesbos gekommen. Die einheimischen Fischer und andere DorfbewohnerInnen sind hingegen schon mehr als 10 Jahre lang mit dem Drama der Schutzsuchenden konfrontiert und haben geholfen.
Salinia Stroux
Die Fischer von Sykamia haben schon sehr oft Flüchtlinge aus dem Meer gerettet, aber auch Leichen geborgen. „Der Meeresboden hier ist voll von toten Menschen. Wir schließen alle die Augen und tun so, als ob diese Menschen vom Mond fallen und nicht auf kriminelle Schleppernetzwerke angewiesen sind.“ Den Vorschlag des Bürgermeisters von Lesbos, Spyros Galinos, normale Fähren für eine legale Überfahrt der Flüchtlinge zwischen der Türkei und Lesbos einzusetzen, damit es keine weitere Toten gäbe und die Schlepperring zerschlagen werden könnten, stimmt er zu. „Es muss ein Weg gefunden werden, um diesen Menschen einen legalen Weg nach Europa zu ermöglichen. Das würde auch Griechenland helfen, besser mit der hohen Zahl der Ankommenden umzugehen”.
Flüchtlinge als Teil des Alltags
Im Fischerdorf Sykamia, wo Hotels und Miethäuser zurzeit durch die vielen HelferInnen und NGO-MitarbeiterInnen ausgebucht sind, ist Rettung von Flüchtlingen schon lange Teil des Alltags der EinwohnerInnen. Trotzdem versuchen manche, aus den Flüchtlingen Profit zu machen. Immer wieder sieht man Einheimische, die am Strand warten, bis die HelferInnen die Flüchtlinge aus dem Boot holen, um alsbald eilig und professionell die neuen Schlauchboote auseinandernehmen und später deren Motor und andere wertvolle Teile auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Salinia Stroux
Im Gegensatz dazu greifen sich AktivistInnen und HelferInnen vor Ort gut erhaltene Boote, um sie für die Rettung von Flüchtlingen einzusetzen. Eine lokale Seeretterin und die Vereinigung der Ärzte von Lesbos werfen einigen NGOs vor, anderen Akteuren den Zugang zu Stränden zu verwehren und somit Hilfe zu blockieren, während auch die notwendige Qualifikation des medizinischen Personals nicht eindeutig gegeben ist.
Wendepunkt in der Flüchtlingspolitik
Während auf Lesbos die Rettungsmaschinerie der ehrenamtlichen HelferInnen und NGOs in vollem Gange ist, gibt es auf europäischer Ebene offensichtlich einen Wendepunkt von der Politik der offenen Grenzen und der Willkommenskultur hin zu einer Politik der geschlossenen Grenzen, der sogenannten Sicherheit und - nach Paris - des Kampfes gegen den Terrorismus.
Neben anderen Balkanstaaten hat jetzt auch Mazedonien den Bau eines Grenzzauns begonnen.. Flüchtlingen, die nicht aus Syrien, Irak oder Afghanistan stammen, wurde gar in mehreren Balkanländern auf einmal der Weg versperrt.
Beim Besuch des griechischen Premierministers Alexis Tsipras am Mittwoch in Ankara wurde eine engere Zusammenarbeit zwischen der griechischen und türkischen Küstenwache beschlossen, die ohne Zweifel zur besseren Kontrolle der Grenze, sprich deren Schließung beitragen wird. Tsipras setzt sich zudem für ein Konzept von Auffanglagern in der Türkei ein.
In einem durch den türkischen Premierminister Ahmet Davutoğlu angekündigten Treffen zwischen Griechenland, der Türkei und Deutschland, soll auch die wachsende Rolle Deutschlands bei der Verwaltung der Flüchtlingskrise zum Thema werden.
Ein anderer Lösungsvorschlag
Doch nicht alle sind mit dieser neuen Politik zufrieden: „Eine weitere Vorverlagerung der EU-Außengrenze in die Türkei, in türkische ‚Hotspots‘, von denen Menschen ungesehen zurückgeschoben werden, sind eine perfide und menschenverachtende Antwort", so Margret Geitner vom Netzwerk Welcome to Europe, das im Jahr 2010 eine Gedenkstätte für die toten Flüchtlinge im nahen Ort Korakas errichtet geht. Ihr Lösungsvorschlag geht in eine andere Richtung: „Eine Bootskette der Volunteers zwischen der griechischen und der türkischen Küste, ein quasi sicherer Reiseweg von unten - wäre sicher ein schöner symbolischer Akt. Wir müssen es immer wieder und in vielfältiger Form fordern: Wir brauchen dringend offene Grenzen und legale Einreisemöglichkeiten.“