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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

22. 11. 2015 - 09:03

Schauen und staunen

Überraschend, verstörend und dann wieder wunderbar zeigen sich die Leben anderer in den Filmen beim This Human World Festival 2015. Eine Vorschau.

This Human World 2015 -
internationales Filmfestival der Menschenrechte,
3. bis 11. Dezember, Wien

Was geht in jemandem vor, der in einer kargen Landschaft mit einem Astronautenhelm eine Mission am Mars simuliert und sich über Versteinerungen bückt, die leider keine Dinosaurierspuren sind? Das will man wissen, wenn man dieses kuriose Szenario sieht. Das Festival This Human World richtet seine Aufmerksamkeit auf Menschenrechte.

Und zwar in einer Weise, die Menschenrechte nicht sofort als Problemfelder ausmacht, die einen komplett überfordern. Nein, This Human World zeigt in siebzig Dokumentar- und Spielfilmen auf den ersten Blick teils unglaubliche Lebenswelten rund um den Globus. Da trifft man auch April Davis in der Mars Desert Research Station in der eigenwilligen Doku "Above and below".

Die Würde des Menschen ist unantastbar, das haben sich die Deutschen in die Verfassung geschrieben. In der österreichischen Bundesverfassung gibt es keine explizite Erwähnung für die Achtung und den Schutz der Menschenrechte. Wie alltäglich das Ringen und der Kampf um diese Würde ist, macht This Human World zum achten Mal sichtbar. Die Austragungsorte sind das Gartenbaukino, Filmcasino, Top Kino, Schikaneder und die Brunnenpassage in Wien. Toll ist, dass man sich die Kinobesuche mit einem Klick nach Ländern zusammenstellen kann.

Differenziertes Gegenwartskino

Armut in Europa ist eines der großen Themen, auf die das Festival einen Schwerpunkt setzt. Plötzlich wirken die Realitäten amerikanischer Obdachloser nicht mehr fern.
"Manchmal gibt es keinen Plan B", sagt ein David in "Above and below" von Nicolas Steiner. Der amerikanische Staatsbürger hat sich in die Einöde zurückgezogen und haust in einem alten Armeebunker. Postadresse hat er keine mehr, jedoch eine E-Mailadresse und einen Facebook-Account. Eine Frau Mitte Fünfzig freut sich über die verschiedenfarbigen Nagellacke, die ihr Freund für sie aus Müllcontainern fischt. Fast jeder Tunnel in Las Vegas sei bewohnt, erklärt sie, die sich in einem Abwasserkanal temporär eingerichtet hat, bis der nächste Regen kommt und der zusammengetragene Hausrat schnell nach oben geschafft werden muss.

Flucht in all der Vielschichtigkeit ist bereits in den vergangenen Festival-Jahren immer ein gewichtiges Thema gewesen. Der Schwerpunkt "This human tracks" konzentriert sich erneut auf jene Umstände, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat zwingen, und berichtet von Schattenökonomien und Grenzpolitiken.

So begleitet "I am Dublin" einen 17jährigen Somalier in Schweden und Finnland. Über die Metaebene und ursprüngliche Idee, den jugendlichen Flüchtling für ein Filmprojekt zu casten und eine fiktive Fluchtgeschichte spielen zu lassen, zeigt die Doku Details aus dem Alltag einer Person, die niemand wahrnehmen will. "Wäre die Kamera nicht anwesend, gäbe es keine Hilfe", stellt der Jugendliche Ahmed fest. Durch den Wechsel zwischen gefilmten Drehbuchproben und realem Geschehen verliert sich leider die Drastik. Über 300.000 Dublin-Fälle wurden in der Europäischen Union in den letzten sechs Jahren registriert, halten die Filmemacher beim Zeitpunkt der Fertigstellung der Doku heuer fest.

Ein junger Somalier raucht. Seine Finger tragen dicken Verband.

AB Story

"I am Dublin"

Auf filmische Reisen kann man sich in einer speziellen Auswahl von Produktionen aus der Kaukasus-Region begeben, auch das lateinamerikanische Kino wird in einem Schwerpunkt berücksichtigt. This Human World zeigt ausschließlich Filme, die 2015 oder im Vorjahr fertiggestellt wurden.

"Every Time We Fuck We Win" geht in die Fortsetzung: Im Vorjahr gestartet, will die Programmschiene Pornofilme präsentieren, die etwas anderes zeigen als der Mainstream-Heteroporno das tut. Die Kuratorinnen Zora Bachmann, Denice Bourbon und Mara Verlic rücken Sexarbeiterinnen, Filmemacherinnen und Künstlerinnen in den Fokus, "um Grenzen zwischen politischer Arbeit, sexuellem Verlangen, Lohnarbeit, Low-Budget Produktionen und Nacktheit zu erforschen". Konkret etwa mit der Doku "Yes, we fuck!", die sich mit gelebter Sexualität von Menschen mit Behinderungen beschäftigt. Dazu gibt es am 4. Dezember auch eine Diskussion.

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