Erstellt am: 19. 11. 2015 - 14:43 Uhr
"Geheimdienste versagen gegen Terror immer"
Seit den Massakern in Paris werden von europäischen Politikern und Behörden abwechselnd Edward Snowden, Verschlüsselung, PlayStations und andere Kommunikationsmittel für das Gelingen der Anschläge verantwortlich gemacht. Kaum thematisiert wurde hingegen, dass die für "Gefahrenerkundung" im Vorfeld zuständigen Geheimdienste erneut völlig ahnungslos waren, obwohl enormer Kommunikationsaufwand mit den Anschlägen verbunden war. Und wieder waren die meisten Attentäter den französischen Diensten seit Jahren als notorische Extremisten bekannt.
Aktuell dazu in ORF.at
Am Donnerstag fanden neue Razzien im Brüsseler Stadtteil Molenbeek statt, aus dem mehrere der Attentäter in Paris stammen
Für James Bamford, Journalist und Autor mehrerer Standardwerke über die NSA, ist dieses Versagen keine Überraschung. "Die Geheimdienste haben in der jüngeren Geschichte so gut wie nie einen Terroranschlag verhindern können. Die NSA hat von 9/11 aus dem Fernsehen erfahren und auch alle anderen Anschläge in den USA nicht verhindern können", sagte Bamford am Dienstag in Wien zu ORF.at. Die Gründe dafür seien keineswegs technischer Natur, sondern auf selbst gemachten Datenoverkill, schlechte Koordination sowie Defizite bei Fremdsprachen und Analyse zurückzuführen.
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CC BY SA 3.0 Fm4/Erich Moechel
"Forderungen reines Ablenkungsmanöver"
Das neue französische Staatsschutzgesetz "Projet de loi relatif au renseignement" ähnelt dem österreichischen insofern, als in beiden polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse vermischt werden.
In Frankreich hatten die Behörden bereits Stunden nach den Anschlägen eine Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung gefordert. In Großbritannien kündigte Premier David Cameron 1.400 neue Stellen für den Militärdienst GCHQ an, ÖVP-Generalsekretär Reinhold Lopatka gab in Österreich wiederum bekannt, dass "der Kampf gegen den Terror" nun "leider eine Einschränkung der Bürgerrechte" erfordere und twitterte "Staatsschutzgesetz!".
Auch diese Reaktionen kommen für Bamford wenig überraschend, zumal es die übliche Strategie der Dienste sei, von den eigenen Fehlern mit Forderungen nach noch mehr Daten abzulenken, sagt der Geheimdienstexperte, der am Donnerstag auf der Wiener Sicherheitskonferenz Deepsec einen Vortrag hielt. Zudem haben "die französischen Geheimdienste erst vor den Anschlägen umfassende neue Zugriffsmöglichkeiten erhalten, ihre Kompetenzen übersteigen mittlerweile sogar die Möglichkeiten der NSA". Diese Maßnahmen des französischen Staats waren nach dem Massaker in der Redaktion von "Charlie Hebdo" erst im Frühsommer 2015 verabschiedet worden.
Methodisches Versagen, Ablenkungsmanöver
Nach den Attentaten auf die Redaktion von Charlie Hebdo kam die Speicherung von Vorratsdaten aus dem Flugverkehr wieder auf die Agenda des EU-Parlaments.
Auch im Fall Charlie Hebdo waren die Attentäter den Behörden bereits davor als gewaltbereite Extremisten aufgefallen, die enge Kontakte zur IS-Terrortruppe in Syrien unterhielten. Dass sie in der Folge dennoch völlig ungehindert morden konnten, sei keineswegs ein Ausrutscher gewesen, sagt Bamford. Auch den US-Diensten waren von den Aschlägen auf das World Trade Center 1993, über den "Unterhosenbomber" bis zu den Attentätern auf den Marathon von Boston 2013 zumindest die Masterminds der Terroristen bereits bekannt gewesen. Dass nach jedem dieser Anschläge noch mehr und tiefgreifendere Zugriffe gefordert und auch genehmigt worden seien, habe die Probleme für die Geheimdienste noch verschärft, ist Bamford überzeugt.
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CC BY SA 3.0 Fm4/Erich Moechel
Die Misserfolge der Fahndung nach den Boston-Bombern in den USA hatten auch maßgeblich dazu beigetragen, dass die geplante Vorratsspeicherung von Fluggastdaten im EU-Parlament 2013 noch keine Mehrheit fand.
Obwohl die russischen Geheimdienste ihre US-Gegenparts schon 2011 davor gewarnt hatten, dass der ältere der beiden Boston-Bomber Kontakte zu Extremisten in Dagestan unterhielt, pendelte der ungeachtet aller Passagierprofile und "No-Fly-Lists" mehrmals unbehelligt zwischen den USA und Dagestan. Der Grund für das Versagen dürfte 2013 auf die unterschiedlichen Transkriptionen des Namens aus dem Kyrillischen gewesen sein. In den englischsprachigen Agenturmeldungen danach wurden die Brüder "Tsarnaev", im deutschen Sprachraum aber als "Zarnajew" bekannt.
Der mit der Vorbereitung der Attentate einhergehende Kommunikationsverkehr war den US-Überwachern ebenso wenig aufgefallen wie nun in Frankreich. "Dabei handelte es sich bei den Attentaten in Paris um eine organisatorisch aufwendige und logistisch komplexe Aktion einer relativ großen Tätergruppe, die über mindestens drei Länder verteilt war. Es ist schon ziemlich merkwürdig, dass die Kommunikationen von bekannten Terrorverdächtigen niemandem in der Geheimdienstwelt aufgefallen sind", sagt Bamford, "ein Mangel an Daten war es nicht, denn die Daten hatten sie."
Nachdem der "Unterhosenbomber", dessen eigener Vater die US-Botschaft vor seinem Sohn gewarnt hatte, an seinem eigenen Unvermögen gescheitert war, wurde nach einem solchen Täterprofil gefahndet.
Bamford über Sprachen und Dienste
"Tatsächlich haben die Dienste nämlich ein Sprachenproblem. Rund um 9/11 gab es in der NSA nur ein paar Analysten, die Pashtu, Dari oder Urdu sprachen. Dieses Sprachenproblem existiert schon seit ewig in der gesamten 'Intelligence Community'. Ich hatte für den Senatsausschuss zur Kontrolle der Geheimdienste ein Jahr vor 9/11 ein Programm zur verbesserten Sprachauswertung für die Geheimdienste vorgeschlagen. Zu meiner Überraschung wurde mein Vorschlag, ein 'Linguist Reserve Corps' aus ehemaligen Militärs und freiwilligen Zivilisten zu bilden, die allesamt Muttersprachler sind, in Folge mehr oder weniger angenommen", erzählt Bamford.
Der Hinweis, dass die NSA einen "Durchbruch in der Verschlüsselung" erzielt haben musste, war 2012 ebenfalls von Bamford gekommen. Erst vor einem Monat hatte eine Gruppe namhafter Kryptologen die Natur dieses "Durchbruchs" mit einiger Sicherheit identifizieren können.
"Weil man nicht einfach fünfzig Muttersprachler in - sagen wir - Lingala anstellen kann, nur für den Fall, dass im Kongo irgendwann eine Krise ausbricht, war die Idee dahinter, ein Corps zu bilden, das ad hoc einberufen werden kann. Dieser Ansatz ist zudem sehr billig, weil die Besoldung für Reservisten ziemlich niedrig ist. Sehr viele Zielpersonen der Geheimdienste stammen aus mehrsprachigen Gebieten, ein abgehörtes Gespräch aus Afghanistan kann von Pashtu schnell einmal zu Urdu oder Dari wechseln. Ein Analyst, der Pashtu an einer Schule in den USA gelernt hat, versteht ab da nur noch Bahnhof, ein Muttersprachler kann derselben Konversation hingegen folgen und auch deren Nuancen in den richtigen Kontext setzen, weil er diese Sprachen nicht zum ersten Mal hört."
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Public Domain
"Auf jeden Fall wurden meine Vorschläge umgesetzt, wie, kann ich leider nicht beurteilen, denn mir fehlt die dafür nötige Sicherheitsüberprüfung durch die Dienste", sagte Bamford sichtlich amüsiert, deshalb wisse er auch nicht, ob seine Kernforderung nach Muttersprachlern darin verblieben sei. "Sowohl beim CIA-Personal wie in der NSA herrscht enormes Misstrauen gegenüber Muttersprachlern, gerade wenn sie in ihrem Herkunftsland auch aufgewachsen sind, weil es sich ja um Spione handeln könnte. Das ist ziemlicher Schwachsinn, denn auf der Liste der Topspione und Landesverräter waren das von Robert Hansen angefangen allesamt waschechte Amerikaner."
"Mit Vollgas in die falsche Richtung"
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Orrell Füssli
Bamfords erstes Buch über die davor so gut wie unbekannte NSA hatte 1982 wie eine Bombe eingeschlagen, wie alle folgenden Bücher landete auch "The Puzzle Palace" auf der Beststellerliste der New York Times. Mehr über Bamford in der Wikipedia
Angesichts der miserablen Erfolgsbilanz der westlichen Geheimdienste wäre es jedoch verfehlt, zu sagen, die Dienste seien "Underachiever", also Versager, die ihre Ziele nicht erreicht hätten, sagte Bamford: "Die sind mit Vollgas unterwegs, allerdings in die verkehrte Richtung. Statt sie frühzeitig zu erkennen, produzieren sie die Gefahren selbst. Die Invasion im Irak 2003 basierte auf miserabler Nachrichtenaufklärung über angebliche Massenvernichtungswaffen, nichts davon wurde ordnungsgemäß überprüft, weil man sich auf Behauptungen aus unzuverlässigen Quellen verließ."
"Auf einer so prekären Grundlage wurde das Regime Saddam Husseins gestürzt, von der Zerschlagung der irakischen Armee angefangen hat dann eine blöde Idee die nächste gejagt. In dem daraus resultierenden Machtvakuum entfaltete sich dann der IS, der zuletzt für die Anschläge in Paris verantwortlich war. Was also mit dilettantischer Nachrichtenaufklärung begonnen und Krieg zur Folge hatte, resultiert seitdem in Terroranschlägen gegen Zivilisten. Anstatt diese Bedrohungen abzuwehren, hat die NSA sie in diesem Fall selber mitproduziert."
William Binney, Mathematiker, Kryptologe und nach mehr als 30 Dienstjahren seit 2001 NSA-Dissident, sagt überhaupt, dass NSA und Co gar keine Nachrichtenaufklärung mehr, sondern Forensik im Nachhinein betreiben
SMS statt Verschlüsselung
Nach all den von Politikern, Polizei und Diensten in die Welt gesetzten Gerüchten hatte sich spätestens am Mittwoch herausgestellt, dass die Täter vor dem Anschlag via SMS kommuniziert hatten. SMS ist ein nicht verschlüsselbarer Dienst, der zusammen mit allen Metadaten der Kommunikation in ein und demselben SS7-Datenstrom transportiert wird. Diese Inhaltsdaten werden im Regime der Vorratsdatenspeicherung, das in Frankreich seit mehr als zehn Jahren gültig ist, von den Telekoms aus technischen Gründen im Volltext mitgespeichert, weil das Gesamtvolumen dieser Daten unerheblich ist.
Wie methodisch die Propaganda gegen Verschlüsselung von den Geheimdiensten eingesetzt wird, zeigt eine von der "Washington Post" im September veröffentlichte E-Mail des Chefjuristen beim obersten Geheimdienstdirektor. Obwohl die gesetzgeberische Umgebung derzeit sehr feindlich sei, solle man alle Optionen offen lassen, schrieb General Counsel Bob Litt an seine Kollegen: "Das könnte sich im Fall eines Terroranschlags sehr schnell ändern, wenn sichere Verschlüsselung für eine Verhinderung der Aufklärung verantwortlich gemacht werden kann."