Erstellt am: 16. 11. 2015 - 11:46 Uhr
"Die Jungen nicht den Salafisten überlassen"
In seinem neuen Buch "Generation Allah - Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen", versucht der Islamexperte und Psychologe Ahmad Mansour den Motiven junger Dschihadisten in Europa auf die Spur zu kommen. Er selbst ist in einem arbabischen Dorf in Israel aufgewachsen und als Jugendlicher in die Fänge religiöser Fanatiker geraten. Heute lebt Mansour in Deutschland und engagiert sich als Psychologe und Sozialarbeiter in Projekten wie Heroes gegen den Extremismus. Er fordert eine innere Reform des Islam und eine Gesellschaft, die sich aktiver gegen die Radikalisierung Jugendlicher einbringt.
Christian Lehner
*Interview gemeinsam mit Sandra Krieger.
Christian Lehner*: In ihrem Buch "Generation Allah" schreiben Sie, dass die Frage nicht lautet, ob es neue Terroranschläge in Europa geben wird, sondern wann. Am Freitag ist es tatsächlich wieder passiert und wieder war Paris das Ziel. Warum?
Ahmad Mansour: Das hat mit den Strukturen des Terrorismus zu tun. In Frankreich und in Paris sind die eben sehr gut ausgeprägt. Die Terroristen haben dort jederzeit die Möglichkeit, Anschläge zu planen und durchzuführen. Dazu kommt natürlich, dass sich Frankreich im militärischen Kampf gegen den IS stärker engagiert als andere. Aber es geht nicht nur um Frankreich, sondern um Europa, um die Art, wie wir zusammenleben, um unsere Demokratie und Freiheit und um die Vielfalt unserer Gesellschaft.
Die Terroristen sind meist sehr jung, viele der Opfer in Paris waren das auch. Sehen Sie einen Zusammenhang in der Altersstruktur?
Die Terroristen wollen jene angreifen, die feiern und die ihre Freiheiten genießen. Auch sie sind jung, suchen Orientierung und Halt. Sie werden durch eine sehr gefährliche Ideolgie einer Gehirnwäsche unterzogen. Plötzlich gehören sie zu einer Elite. Ihnen wird gesagt, sie können die Welt erobern und in die Nachrichten gelangen. Wir merken seit Jahren, dass die Radikalisierungstendenzen unter Jugendlichen zunehmen. Das hat ein Potenzial erreicht, das dazu geführt hat, dass diese Jugendlichen mittlerweile zu Anschlägen in solchem Ausmaß wie in Paris fähig sind. Aber die Basis dieser Radikalisierung ist viel breiter, als wir denken und uns eingestehen wollen.
Der deutsche Comedian Jan Böhmermann hat auf Facebook geschrieben: "Hassen uns die Islamisten wirklich oder sind sie bloß neidisch?"
Tiefenpsychologisch glaube ich, dass es hier um nicht artikulierte Wünsche geht. Diese Freiheit, der Umgang mit der Sexualität, die Gleichberechtigung, die Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit, das sind Veranlagungen, die in jedem Menschen stecken. Das ist unsere Natur. So wollen wir eigentlich leben. Aber wenn ich mit einer Ideologie aufwachse, wo solche positiven Aspekte verteufelt und als Sünde dargestellt werden, dann entsteht ein Gewaltpotential, das glücklicherweise nur in sehr wenigen Fällen auch tatsächlich zu Gewalt führt.
Liegt dann für diese Jugendlichen im Akt des Terrors eine Freiheit, ein Exzess, der im Westen zum Beispiel in der Popkultur ausgelebt wird?
Ein Rockkonzert ist natürlich ein Symbol für Demokratie und Freiheit. Für Islamisten ist es umgekehrt ein Symbol für sündhaftes Leben. Es ist für sie das Gegenteil von dem, was Gott von uns erwartet. Das gilt auch für ein Fußballspiel.
Geht es auch darum, sich Lust zu verschaffen in einer Ideologie, die eigentlich Lustfeindlichkeit zum Prinzip erhoben hat?
Wenn man sich anschaut, was sich diese Menschen vom Paradies erhoffen, merkt man, dass sie dort alles erwartet, was sie im Leben nicht erreichen konnten oder nicht erreichen durften. Natürlich sind das Wünsche, die vor allem junge Menschen ansprechen.
Die Augenzeugen von Paris erzählen immer wieder, wie ruhig und entschlossen die Attentäter vorgegangen sind. Wie erklären Sie sich das?
Man entscheidet nicht von heute auf morgen, Terrorist zu werden. Diese Leute sind jahrelang einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Sie sind davon überzeugt, dass sie den Islam verteidigen, dass sie in den Himmel kommen und dass Gott sie lieb hat, dass sie was Gutes tun, dass sie was Moralisches tun. Das sind keine Affekthandlungen, sondern von langer Hand geplante Aktionen, die gut organisiert und dann kaltblütig ausgeführt werden.
Terror mit islamistischem Hintergrund gibt es seit Jahrzehnten. Warum hat sich das in den letzten Jahren potenziert?
Das hat nichts mit „Jetzt“ zu tun. Wir haben schon in der Vergangenheit immer wieder Anschläge erlebt: in Europa, im Irak, in Israel, in den USA, überall. Der Terror in Paris war aber sehr gut vorbereitet. Der Islamische Staat hat das wahrscheinlich finanziert und Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Das war in der Vergangenheit nicht so leicht möglich. Es wird in Zukunft sicher weitere Anschläge geben.
Viele dieser Jugendlichen radikalisieren sich nicht im Nahen Osten, sondern in Europa.
Seit gut drei Jahren beobachten wir das Phänomen, dass Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, mit Migrationshintergrund oder ohne, sich radikalisieren. Tausende von ihnen konnten mehr oder weniger ungehindert nach Syrien oder den Irak gehen und sich dort dem IS anschließen. Jetzt ist der Weg dorthin schwieriger geworden und der IS wird stärker bekämpft. Das ist natürlich gut. Dass manche Terroristen den Feind nicht in Syrien oder im Irak bekämpfen wollen, sondern hier in Europa, stand als Potenzial aber immer schon im Raum.
Gibt’s einen Unterschied zwischen radikalisierten Jugendlichen in Frankreich und in Deutschland oder Österreich?
Definitiv nicht. Die Intensitäten und Zahlen sind vielleicht anders, aber die Gründe für Radikalisierung sind in ganz Europa die gleichen und das müssen wir bekämpfen. Wir können nicht warten, bis jemand Anschläge verübt. Es geht darum, präventiv zu wirken und diesen Jugendlichen schon ganz früh Angebote zu machen und sie nicht den Salafisten zu überlassen.
Wie haben diesbezüglich Gesellschaft und Politik versagt?
Wir haben es mit zu viel Aktionismus zu tun. Journalisten zum Beispiel reagieren nur, wenn Anschläge gemacht werden. Sie führen kein Interview mit mir, wenn es ruhig ist. Aber diese Ruhe ist relativ. Experten weisen seit Jahren auf die Radikalisierungstendenzen hin. Heute sind die Salafisten die besseren Sozialarbeiter. Sie sprechen die Jugendlichen im Netz an, aber auch auf der Straße, dort wo die Jugendlichen oft nichts mit ihrem Alltag anfangen können, wo sie Zweifel haben, depressiv sind, sich nach Erlösung sehnen. Und wir, die Mehrheitsgesellschaft, die Pädagogen und Politiker sehen weg. Wir geben nach Anschlägen immer wieder ein paar Millionen für diverse Projekte, aber das reicht nicht. Das ist ein Generationsproblem. Wir verlieren viel zu viele Jugendliche. Die beginnen ja nicht als Terroristen. Sie stellen zunächst Werte in Frage oder lehnen sie ab. Wir müssen eine direktere Sprache sprechen, unsere Werte attraktiver für diese Menschen machen und sie besser vermitteln.
Seit den Anschlägen in Paris spricht man davon, dass sich die Gesellschaft fundamental ändern wird. Wie beurteilen Sie das?
Die beste Antwort auf Terrorismus ist, unsere Freiheit weiterzuleben.
Immer wenn islamistischer Terror passiert, wird der Ruf laut, dass sich die muslimische Community in Europa, auch jene, die sich als liberal begreift, mehr tun muss, damit so etwas nicht mehr passiert.
Alle Muslime müssen mehr tun. Wir müssen uns vor allem fragen, wie so ein Ungeheuer unter uns entstehen konnte. Natürlich lehnt die große Mehrheit der Muslime Gewalt ab. Aber vor allem der politische Islam schafft eine Basis für die Radikalen und ihre Ideologie. Wir müssen einen Islam entwickeln, der radikalen Tendenzen eine Absage erteilt und das ist nicht der Fall derzeit. Wir stehen da ganz am Anfang. Wir dürfen uns nicht zufrieden geben mit Sätzen wie „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“, das ist zu billig. Wir müssen vielmehr einen offenen, liberalen, vor allem demokratiefähigen Islam anbieten, der ohne Wenn und Aber hinter der Demokratie und den Menschenrechten steht.
Fürchten Sie um den Frieden in Europa?
Ja. Deshalb sage ich: Es geht um unsere Art zu Leben und um unsere Demokratie und unsere Vielfalt und die müssen wir jetzt verteidigen.
Und wovor haben Sie in diesem Zusammenhang die größte Angst.
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#parisattacks auf FM4
Vor allem vor der Polarisierung. Es geht nicht um „wir Europäer“ gegen „die Muslime“, sondern es geht um „wir Demokraten“ gegen Radikalisierung und Fanatismus.