Erstellt am: 15. 11. 2015 - 17:42 Uhr
Annahmezustand
Die Kommentare zu Krieg und Terror sind so terroristisch oder kriegerisch wie ihre Verfasser, mehr als wie ihre Situation. Von den üblichen Seiten kommen die Üblichen, eh noch die Toten gezählt sind. Es gibt Jubelmeldungen von islamistischer und antiamerikanischer Seite, bis hin zum Aluhut-Kommentar oder dem erstaunlichen Facebook-Eintrag eines unerwartet gedimmten österreichischen Fußballers: "Only a guy like Putin can save Europe".
Nötigung. Wie von unsichtbarer Hand gezwungen, bemühen uns wir Verteidiger von verteidigenswerten Werten wie Toleranz, heiterem Ungehorsam, Pop und Spaß in der Öffentlichkeit "Flagge zu zeigen". Daher sieht man in den sozialen Medien, die die derzeitige Möglichkeit zur Öffentlichkeit geworden sind, alle Gesichter in die Farben der französischen Trikolore getaucht. Auch die Marseillaise wird überall abgesungen, gewiss im guten Glauben, den Bewohnerinnen des westlichen Landes, das die schwersten Terroranschläge seit 15 Jahren zu erdulden hatte, Solidarität zukommen zu lassen, ja sich sogar vollends mit ihnen zu identifizieren, "Je suis France", wir alle sind die Opfer des Terrors, weil wir es alle hätten sein können, in einem der Clubs oder Terrassen unserer Städte.
Dabei bringt man sich jedoch selbst in die Position, in die man sich fügen soll. Die Trikolore ist erst in zweiter Linie das Symbol für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ursprünglich wurde sie aus dem Wappen von Paris und dem der Bourbonen geclippt, ein Symbol, wie es nationalistischer nicht sein könnte. Und die Marseillaise ist zwar die Hymne der bürgerlichen Revolution, aber derzeit überall "Zu den Waffen, Bürger" zu hören, sollte einem kaltes Schaudern über den Rücken jagen. Auch der jetzige Feind hat staatliche Ansprüche und würde seine Banden gerne als "Bürger unter Waffen" verstanden wissen.
So wird man als Solidaritätswilliger dazu genötigt, was Klaus Theweleit - in seiner Analyse des Films "Das Schicksal" von Youssef Chahine über den Untergang der Mischgesellschaft von Cordoba vor der Reconquista - als "erpresste Loyalität" bezeichnet hat. Ultrarechte Kräfte des Westens, die nach mehr Überwachung und Zäunen rufen, lassen sich in ihren Zielen schwer von den islamistischen Fundamentalisten unterscheiden: Ihre gemeinsamen Feinde sind Feminismus, Dekadenz, Ironie, Uneindeutigkeit und, vor allem anderen, die "weltlich orientierte Mischkultur".
Das muss man trotz Trauer und Wut wohl beim Aufmalen der Trikolore mitbedenken.
So war dieser Cartoon der wohl tröstlichste des gestrigen Tages:
joannsfar
Nicht wenig aufschlussreich sind die Tweets der beiden Clubobleute der Regierungsparteien, auf die Kollegin Ingrid Brodnig hingewiesen hat: Reinhold Lopatka bedauert, dass der Kampf gegen den Terror auch "unsere Bürgerechte einschränken" wird, Andreas Schieder zitiert Jens Stoltenberg und seine Forderung nach "mehr Offenheit, mehr Demokratie, mehr Menschlichkeit" – man mag nun beides für floskelhaftes Politikersprech verschiedener Couleur halten. Die Tatsache, dass sich die verschiedenen Couleurs aus dem floskelhaften Politikersprech herauslesen lassen, sorgt schon für eine veränderte Realität.
Das westliche Parteienspektrum hat sich, entgegen dem "Ende der Geschichte" oder "Ni Gauche, Ni Droite"-Mantra, seit dem Ende des Kalten Krieges selten so eindeutig altideologisch gezeigt wie bei Flüchtlingskrise und Kampf gegen Terror. Ob Law and Order oder Willkommenskultur, ob Gutmensch oder Schlechtmensch, die Grenzen der Ideologien sind so klar gezeichnet wie eh.
Es zeigt sich eine Qualität im deutschen öffentlichen Diskurs etwa in Fernsehdiskussionen. Nicht die KollegInnen machen hier den Unterscheid, sondern die Interviewten. Abgesehen davon, dass man weniger NLP-Phrasen aus Politikermund hört, auch ExpertInnen vermögen zu überraschen. So konnte man gestern im ZDF einen besonnenen hohen Kriminalbeamten hören, der auf keinen Fall "in jeder Ecke einen schwer bewaffneten Polizisten" sehen wollte, und einen deutschen Justizminister, der dazu ermahnte, nicht zu vergessen, dass die Flüchtlinge in Europa vor eben diesem Terror geflüchtet sind, der für die Pariser Tragödie verantwortlich zeichnet und daher eindeutig Opfer und nicht Täter sind. In Österreich sind Worte dieser Art in dieser Deutlichkeit von verantwortlicher Stelle eher Mangelware.
Zugleich verleiht der Linzer Vizebürgermeister auf seiner Facebook-Seite seinem Wunsch nach besonderen "Befehlen" Ausdruck: "wer die Linie ohne Genehmigung nach Prüfung übertritt, wird erschossen".
Auch die liberalen Medien und ihre Kommentatoren zeigen gerne Flagge, wenn der "Annahmezustand" ausgerufen wird, ob das die ex-liberalen großen deutschen Stimmen sind oder die jungen österreichischen: Die NZZ.at und die NZZ am Sonntag schreiben Bereitschaft zum Krieg und Mehr an Überwachung herbei, Cicero titelt, das der Krieg jetzt "da" sei.
Matthias Mattussek spricht davon, dass nun endlich die Debatte über die "Viertelmillion unregistrierter islamischer Männer im Lande" sich "in eine ganz neue, frische Richtung" bewegen würde, und garniert diesen Euphemismus sogar mit einem kleinen Smiley, was seinen Chefredakteur Jan Eric Peters zu einer prompten Distanzierung veranlasst. Sogar der notorisch unzimperliche Kai Diekmann fand dies nun doch "ekelhaft".
Indes weist Die "Krone" darauf hin, ja deckt auf, dass der stets erwähnte Mazedonier und mutmaßliche Komplize der Attentäter von Paris mit Waffen im Auto "quer durch Österreich" gereist sei - was auf dem Weg von Slowenien nach Paris fast nicht zu vermeiden ist.
Die Verblödung kennt keine innerösterreichischen Grenzen: In der samstäglichen "Tiroler Tageszeitung" wird tatsächlich ein etwa 60 Jahre alter, damals schon rassistischer Gastarbeiterwitz vom faulen ausländischen Tachinierer publiziert - auf Türke umgemodelt -, der das Hammerwerfen gewinnt, weil er gelernt hat, sein Werkzeug so weit weg wie möglich von sich zu werfen.
Weiterlesen:
#parisattacks auf FM4
Titel der Rubrik "Hier wird gelacht…"
Nun, hier nicht.