Erstellt am: 14. 11. 2015 - 12:18 Uhr
"We must build a wall of unity!"
Hinweis: Dieser Text ist vor Bekanntwerden der Anschlagsserie in Paris verfasst worden. Die konkreten Ausmaße waren zum Redaktionsschluss noch nicht veröffentlicht.
Wie passt es zusammen, dass The Prodigy und Public Enemy miteinander auf Tour gehen? Besser, als auf den ersten Blick erscheint: Beide Acts gelten als stilprägende Galionsfiguren ihres Genres, beide stünden auf einem Festival ihrer Stilistik am Flyer ganz oben. Beide sind bekannte Live-Fetischisten, überschreiten immer wieder musikalische Grenzen und teilen eine Vorliebe für das tiefe Klangspektrum ("Bass, how low can you go?"). Außerdem erklärte The Prodigy-Frontman Keith Flint im Interview, der kraftvolle Elektro-Sound seiner Band, der seit 25 Jahren die Tanzflächen der Welt mobilisiert, basiere auf drei Säulen: Punk, Rave und Public Enemy. Naheliegend also, dass die Briten die selbsternannten Staatsfeinde und Polit-Rap-Innovatoren aus New York auf ihre "The Day is my Enemy"-Tour einladen.
Franz Reiterer
It takes a Nation of Millions to hold us back
Public Enemy prägten HipHop der späten Achtziger und frühen Neunziger mit politischer Agitation und schwarzem Selbstbewusstsein wie kaum eine andere Band. Die "Rebels without a Pause" brüllten statt "Hey-Ho" militante Slogans über lärmende Beats. Alles in einer Zeit, in der ein schwarzer US-Präsident noch ebenso große afro-futuristische Science Fiction war wie ein Dr. Dre, der mit dem Verkauf von Kopfhörern zum Dollar-Milliardär von Compton nach Cupertino aufsteigt. Public Enemy entjungferten das verspielte Party-Genre HipHop und erzog es zum wahlberechtigten, kritisch-aufgeklärten Bürger, der mit seiner rebellischen Haltung sogar jene außerhalb des Rap-Kosmos ansprach, deren Hals auch ohne Goldketten immer dicker wurde.
"Put your fist in the air!"
Diesen Freitag, den 13., stehen die Rapper Chuck D und Flava Flav nach 33 Jahren Bandgeschichte und 13 Studioalben auf der Bühne der halben Wiener Stadthalle und kommentieren nach wie vor das Zeitgeschehen. Ihre Inszenierung ist weniger radikal als in den Anfangsjahren, die Miliz weiß aber noch immer, wie sie aufzumarschieren hat: DJ Lord donnert wilde Scratches vom Stapel, die Live-Band ergänzt Schlagzeug, E-Gitarre und Bass und vier Söldner in Camouflage befehligen das Publikum oder tanzen selbst verhalten synchron im Hintergrund, strecken die Faust in die Luft und verfallen nach jeder Einlage wieder in eine Habt-Acht-Starre. Zwischendurch - wie es sich für einen Soldaten gehört - Liegestütz.
Bring the Noise
Tatsächlich ist es auch diesen Abend die ungewöhnliche Paarung der beiden MCs, die trotz Alte-Hasen-Status ähnlich wie The Prodigy top-motiviert sind. Zum einen Chuck D, der Rap einst als das schwarze CNN bezeichnete; der Inbegriff des politisch motivierten Raps. Seine sonore Stimme dank ihres kraftvollen Punchs ist immer noch eine der markantesten im Game. Zum anderen Flavor Flav, die schrille HipHop-Karikatur mit neonorange-farbener Brille, der auf einem Rollerboard wie ein Businesspunk auf seinem Segway auf die Bühne kurvt; der niedlich-verschrobene Rap-Clown, der im neuen Jahrtausend seinen übergroßen Uhren-Halsschmuck breit grinsend in die Kameras amerikanischer Reality-TV-Serien hing. Sein kuriosester Auftritt: als der HipHop-Bachelor in der MTV-Serie "Flavor of Love", in der sich 20 Frauen um ihn zanken wie die Playboy-Bunnies um Hugh Hefner. Über den von MTV vorgegebenen Hedonismus und Materialismus, der HipHop zu oft charakterisiert, setzen sich Public Enemy auch heute Abend hinweg.
Smells like black spirits
Public Enemys Ideologie war stets beeinflusst von den Ideen von Malcolm X und der Nation of Islam. Heute widmet DJ Lord seine Solo-Einlage den White Stripes und Nirvana. Das im Vergleich zum Auftritt von The Prodigy noch recht verhaltene Ü-30-Publikum goutiert es auffallend. Die laut Veranstalter knapp 4.000 Gäste nicken zu Klassikern wie "Don't believe the Hype" (Kritik: die weißen Medien), "911 is a joke" (Kritik: die weiße Polizei), "Can't Truss It" (Kritik: die weißen Unternehmer). Leider sind die Vocals oftmals nur schwer verständlich und die Band großteils zu lärmend. Vermutlich fragte sich der Tontechniker: Bass, how loud can you go?
"Peace!"
Die stärksten Gefühle zeigt Chuck D beim Titeltrack des aktuellen Albums "God laughs, Man plans", als er inbrünstig auf die Knie fällt, stellvertretend für die zerrissene schwarze Jugend der USA seine Zweifel äußert am Spannungsverhältnis zwischen dem Streben nach Frieden und dem Durchsetzen der eigenen Rechte und Gott und sich selbst befragt: "Am I radical, am I pacifist?" Hätte er gewusst, was in dieser Nacht in Paris passieren wird, hätte er mit Sicherheit dieselbe Antwort gegeben, mit der Flava Flav seine Brandrede gegen Ausgrenzung und Rassismus endete: Nur wenn wir zusammenhalten, egal welcher Ethnie, Hautfarbe oder Religion, egal wo auf diesem Planeten, kommen wir durch. "We must build a wall of unity!" Am Ende seiner Rede ersetzt das Peace-Zeichen die Faust. Zugabe braucht das Publikum keine mehr.
Build a circle!
The Prodigy präsentieren in ihrer knapp 80-minütigen Show neue Tracks vom aktuellen Album "The Day is my Enemy" und holen auch alte Hadern wie den guten Luzifer aus dem Outer Space zurück auf die Bühne. Lichtshow, Sound-Technik und das tanzfreudigere Publikum verdeutlichen, warum die britischen Club-Superstars der Headliner in der Wiener Stadthalle sind. Beim Höhepunkt, "Smack my Bitch up", bangt dann sogar der starre Iron-Maiden-Fan seine Mähne. Und der Bass geht dermaßen "low", dass der Gitarrist laut Augenzeugenberichten sich während seines Spiels übergeben musste. Auch wenn nach etwa 80 Minuten die Show ohne Zugabe endet, der Rivale, das Tageslicht, ist bezwungen. Das Hallen-Licht geht trotzdem an.