Erstellt am: 12. 11. 2015 - 19:00 Uhr
Was träumt, ist real
Residenz Verlag
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Komisch eigentlich, hab ich mir beim Lesen von Verena Mermers "die stimme über den dächern" gedacht, dass der Surrealismus in letzter Zeit selten auftaucht. Komisch, weil er sich eignen würde, der verwirrenden Wirklichkeit einen Boden im Sinne einer Grundlage zu geben, das Traumwandlerische hervorzukehren und damit vielleicht die politische Perspektivlosigkeit umzukehren. Hier in diesem Buch taucht er auf (und ist mir sehr willkommen), etwa in Gestalt einer Stimme, die spazieren geht und den Kindern nachts wohlklingend in die Träume schleicht, in diesem wundersamen Buch über eine erfolglose Revolution.
Praktisch unbemerkt von der westlichen Welt gab es im Jahr 2011 auch in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, Demonstrationen gegen das autokratische Regime des Ilham Alijew (demokratisch gewählter Nachfolger seines Vaters Haydar Alijew, was bereits einiges über das Demokratieverständnis des Ölstaates aussagt). Alijew hat darauf mit Massenverhaftungen reagiert.
Die vier Hauptfiguren des Romans – Ali und Nino, Frida und Che – sind involviert, zwei junge Paare, die sich harmonisch (zumindest zunächst) eine Dachgeschoss-WG teilen, rauchen, politisieren, Tee trinken, abends um die Häuser ziehen. Sie sind Figuren und sie bleiben es.
Verena Mermer tut gar nicht erst so, als würde sie hier Real-Politisches verhandeln, ihre Konzentration liegt zunächst auf der Beschreibung von Zuständen, auf der Wiedergabe der inneren Stimmen ihrer vier Spielfiguren, die sich an real existierenden Vorbildern anlehnen. Zwar sind sich, wie der Nachspann des Romans informiert, Frida Kahlo und Che Guevara nie begegnet, doch in "die stimme über den dächern" geben sie ein bis zur Sprengkraft energetisches, draufgängerisches Paar ab. Sie sind überzeugt politisch, während Ali und Nino eher von den äußeren Umständen in den politischen Kampf getrieben werden - von sich aus haben sie den Kopf in den Wolken und das Herz auf ewig aneinander verschenkt. Nicht umsonst heißen die beiden Ali und Nino, genauso wie der berühmte Baku-Roman aus dem Jahr 1937, in dem ein junger Muslim und eine junge Georgierin in gewitzter Naivität annehmen, ihre Liebe sei kein politisches Problem. Mit seinem feinen Humor und seinen verschmitzten Kommentaren erinnert "die stimme über den dächern" an Kurban Saids "Ali und Nino".
pawloff
Die FM4-Bühne auf der Buch Wien
"die stimme über den dächern" spielt in einem Zeitraum von einigen Wochen: Nino zieht bei ihren Eltern aus, die WG formiert sich, die Proteste beginnen, jede der vier Figuren wird irgendwie mit Polizei, Tränengas und Gefängnis in Kontakt kommen, die Existenzen werden bedroht. Am Ende wird sich alles auflösen, als ob es nie geschehen wäre. Oder doch?
Es spielt keine Rolle, entscheidend ist, dass Verena Mermer dem politischen und emotionalen Chaos strukturelle Entschiedenheit entgegensetzt, dass sie fast spielerisch Themen wie Gleichberechtigung von Frauen und Männern, Flucht und Exil, staatliche Willkür mit dem Alltäglichen verwebt - mit dem Lokal, in das man immer geht, weil einem nichts besseres einfällt, mit dem Bündel der eigenen Habseligkeiten, mit Theaterproben und Blumensträußen. Die Kommentierung der Lebenszustände könnte altklug wirken. Aber nein, "die stimme über den dächern" ist das Buch einer klugen Autorin, die sich in der Kunst, das Unbewusste, Träumerische als real und gegeben anzunehmen, geschmeidig bewegt.