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Hanna Silbermayr

Lateinamerika, Migration, Grenzen und globale Ungleichheiten

4. 12. 2015 - 12:16

"Es kommen harte Zeiten auf uns zu"

Am 6. Dezember finden in Venezuela Parlamentswahlen statt. Der Regierungspartei droht ein Wahldebakel, die Opposition sieht das als Chance. Ein Gespräch mit der Politikerin María Corina Machado.

Sie gilt als eine der schärfsten KritikerInnen der sozialistischen Regierung in Venezuela: María Corina Machado, die 2010 mit der höchsten Stimmenzahl aller Abgeordneten in die Nationalversammlung gewählt wurde. Dort sieht sie sich nicht nur mit Anfeindungen konfrontiert, sondern auch mit tätlichen Übergriffen. Sie wurde eines Mordkomplotts gegen den amtierenden Präsidenten Nicolás Maduro bezichtigt und mehrfach von Schlägern des Regimes attackiert – einmal sogar im Plenum des Parlaments. Dabei brachen ihr die Angreifer, Abgeordnete der Regierungspartei, das Nasenbein.

Bei den bevorstehenden Parlamentswahlen am 6. Dezember kann die 48-Jährige selbst nicht antreten: Der venezolanische Staat hat ihr und anderen Oppositionellen vorsorglich das passive Wahlrecht entzogen.

Währenddessen ist das Land einer Zerreißprobe ausgesetzt: Maduro schaffte es als Nachfolger der 2013 verstorbenen Linkspopulisten-Ikone Hugo Chávez nicht, die wirtschaftliche und soziale Situation zu stabilisieren. Anhänger und Gegner des Chávez-Sozialismus stehen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber.

Ein Gespräch mit María Corina Machado über die „Diktatur“ in ihrer Heimat, die Sehnsucht der venezolanischen Bevölkerung nach einem Regimewechsel und tätliche Angriffe im Parlament.

Venezolanische Oppositionspolitikerin María Corina Machado.

© Hanna Silbermayr

Die Oppositionspolitikerin María Corina Machado gilt als eine der schärfsten KritikerInnen der sozialistischen Regierung in Venezuela.

Frau Machado, die sozialistischen Regierung ordnet Sie der extremen Rechten zu. Wo im politischen Spektrum sehen Sie sich denn selbst?
Wenn man mich nach dem traditionellen Konzept zwischen links und rechts fragt, dann würde ich sagen, irgendwo in der Mitte. Ich glaube aber nicht, dass diese Einteilung heute noch Gültigkeit hat. Ich wünsche mir eine Partei, die an das Individuum selbst glaubt und es als ihre Priorität ansieht, eine Gesellschaft mit freien, verantwortungsbewussten und produktiven Bürgern zu erschaffen. Der Mensch muss im Zentrum stehen und der Staat in seinen Diensten agieren und nicht umgekehrt. Dazu ist es aber notwendig, den Populismus, den Etatismus, den Klientelismus und im Fall Venezuelas auch den Militarismus zu überwinden.

Das heißt, wenn Sie könnten, würden Sie in Venezuela zuallererst die Macht des Staates einschränken?
Ich würde ein System etablieren, in dem das Parlament mehr Macht bekommt. Das ist eine leidenschaftliche Debatte, die wir im entsprechenden Moment führen müssen. Derzeit ist der Kampf aber ein anderer, nämlich der um Freiheit und Demokratie. Denn in Venezuela haben wir keine Demokratie. Denn: Wird hier die rechtsstaatliche Verfassung respektiert? Nein. Gibt es Gewaltenteilung? Nein. Werden die Menschenrechte, die freie Meinungsäußerung, das Recht auf Privateigentum und Gewerkschaften respektiert? Nein.

Welches politische System hat Venezuela dann Ihrer Meinung nach?
Eine Diktatur und das muss man auch beim Namen nennen. Das ist etwas, was die internationale Gemeinschaft bis jetzt weitestgehend nicht verstehen will. Die Diktaturen unserer Zeit sind ausgeklügelt. Sie bedienen sich einer demokratischen Fassade, um in einer globalisierten Welt, in der repressive, autoritäre Praktiken und Menschenrechtsverletzungen nicht gern gesehen sind, agieren zu können.

Sie meinen: Die im Dezember anberaumten Wahlen sind eine Farce?
Genau. Die heutigen Diktaturen verstecken sich hinter demokratischen Prozessen wie Wahlen. Im Iran, in Weißrussland und in Kuba gibt es auch Wahlen. Wahlen definieren aber keine Demokratie. Die Legitimität eines Regimes zeigt sich nicht nur daran, wie es an die Macht kommt, sondern auch darin, wie es diese Macht ausübt.

Venezolanische Oppositionspolitikerinnen María Corina Machado und Patricia Ceballos.

© Hanna Silbermayr

María Corina Machado gemeinsam mit Patricia Ceballos, Frau des inhaftierten Oppositionspolitiker Daniel Ceballos, bei einer Kundgebung in Caracas.

Vergangenes Jahr sind die Venezolaner gegen die Regierung auf die Straße gegangen. Die Proteste sind aber schnell abgeflaut. Warum?
In Venezuela besitzt der Staat unglaublich viel Macht. Er ist Hauptarbeitgeber, kontrolliert Wirtschaft und Medien. Viele Venezolaner sind vom Staat abhängig. Menschen, die dem Regime kritisch gegenüberstehen, können alles verlieren und haben Angst. Genau darum waren die Proteste ja etwas so Außergewöhnliches. Doch das Regime ist hart dagegen vorgegangen, der gesamte Sicherheitsapparat und das Militär waren in repressive Aktivitäten involviert. Wir sprechen von 3.000 Festgenommenen und Verletzten. Darum ist der Protest irgendwann abgeflaut. Aber Venezuela hat sich dadurch auch verändert. Wenn man heute Meinungsumfragen ansieht, wird klar, dass sich 80 Prozent der Venezolaner einen Regimewechsel wünschen.

Wieso fordern sie ihn dann nicht weiter ein?
Das Regime verletzt Menschenrechte und Verfassung, zerstört Wirtschaft und Institutionen, versucht die Gesellschaft zu unterwerfen. Die Menschen müssen vor den Supermärkten stundenlang Schlange stehen, um wichtige Lebensmittel zu kaufen. Wenn ich auf meinen Reisen irgendwo so eine Ansammlung sehe, mache ich Halt und spreche mit den Leuten. Vor drei Wochen war ich in Río Caribe. Dort haben mir die Frauen vor einem Supermarkt ihre Arme gezeigt. Da standen Nummern darauf: Nummern, die markierten, in welcher Reihenfolge sie dran kommen sollten. Was für eine Demütigung! Diese Menschen sind gebrochen, viele haben resigniert und genau solche Bürger will die Regierung.

Was bedeuten die Parlamentswahlen in diesem Kontext für das Land?
Es gibt am 6. Dezember im Grunde zwei Möglichkeiten: Entweder es gewinnt die Opposition – in den Umfragen stehen wir immerhin bei 80 Prozent oder mehr. Oder aber die Wahl ist vom Regime gekauft. In diesem Fall müssen wir darauf achten, dass man uns respektiert. Das venezolanische Volk würde keinen weiteren Vertrauensbruch mehr akzeptieren und diesen auch nicht entschuldigen.

Regierungsgegner bei einer Veranstaltung der Opposition in Caracas, Venezuela.

© Hanna Silbermayr

Regierungsgegner bei einer Veranstaltung der Opposition in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Das Wort "Paz" bedeutet "Frieden".

Sie glauben also, die Venezolaner würden wieder auf die Straße gehen?
Ich glaube durchaus, dass harte Zeiten auf uns zukommen. Das venezolanische Volk würde darauf drängen, gehört zu werden und sich Respekt verschaffen. Und da gibt es keine andere Option.

Während der letzten Monate gab es innerhalb der sozialistischen Regierungspartei Abspaltungen unzufriedener Mitglieder. Sie werden mit eigenen Listen zur Parlamentswahl antreten. Würden Sie mit Vertretern der venezolanischen Linken zusammenarbeiten, solange sie das demokratische System anerkennen?
Auf alle Fälle! Das Venezuela, das wir aufbauen wollen, müssen wir alle gemeinsam erschaffen. Das Regime hat mich während all der Jahre immer wieder bedroht. Sie haben mir in der Nationalversammlung nicht nur mit Schlägen das Gesicht zertrümmert und mich mit Fußtritten hinausgeworfen. Sie haben mir auch verboten, das Land zu verlassen, bedrohen meine Kinder und überwachen meine E-Mails. Der venezolanische Geheimdienst klebt praktisch an mir, sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt, sitzen im Flieger neben mir. Um die Wunden unseres Landes zu heilen, müssen aber genau wir, die wir am meisten verfolgt und bedroht werden, ein Vorbild sein und vergeben können.

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