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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

10. 11. 2015 - 16:37

The daily Blumenau. Tuesday Edition, 10-11-15.

Aus Nachrufen lernen, z.B. bei André Glucksmann.

#menschsein #flüchtlingspolitik #altesgeldfamilie

The daily blumenau hat im Oktober 2013 die Journal-Reihe (die es davor auch 2003, '05, '07, 2009 und 2011 gab) abgelöst. Und bietet Einträge zu diesen Themenfeldern.

Nachrufe gelten als Königsdisziplin journalístisch-essayistischer Arbeit. Sie sollen das Wesentliche zusammenfassen, aber auch - im besten Fall - unterbeachtete Aspekte herauskitzeln, sie haben Pietät zu wahren, aber auch der Wahrheit die Ehre zu reichen und sie stehen dann da, als ein bisserl Ewigkeit, und sie sind eine letzte Chance der Umorientierung, ehe die Patina die Biografien umflort.

Heute ist André Glucksmann, französischer Philosoph und hochstreitbarer Diskurs-Teilnehmer Maler gestorben; und es kam folgerichtig zu Nachrufen. Die zu Helmut Schmidt lese ich dann abends.

Helmut Schmidt

APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

André Glucksmann und sein Boat People Beispiel

Frankreich hat es in einigen Dingen besser. Etwa im öffentlichen Diskurs. Das ist in Paris und Umgebung ein Raum, in den alle, die sich als aktive Bürger, als Citoyens verstehen, einzahlen; und zwar nicht nur ihre Ansichten, sondern auch ihre dorthin führenden Gedankengänge. Inklusive Offenlegung von Interessen, auch ideologischer Art (auch, weil über eine Ideologie zu verfügen ja nichts Abwegiges ist, wie es einem der eh nur scheinideologiefreie Neoliberalismus in den letzten Jahren dauerbeteuert, sondern Voraussetzung für umfassende Denkfähigkeit).

Frankreichs Intellektuelle, allen voran ihre Philosophen, waren also seit jeher Treiber der öffentlichen Debatten; und zwar zu allen Themen und durchaus einflussreich und wirkungsmächtig, wie es sich auch aus der Biografie von André Glucksmann erfahren lässt.

Der heutige Nachruf der Ö1-Kollegen auf den im Alter von 78 Verstorbenen erzählt auch die Episode des aktiven Einsatzes Glucksmanns für die Aufnahme der vietnamesischen Boat People, die Ende der 70er-Jahre vor den Umerziehungslagern der Machthaber flüchteten, auf wackeligen kleinen Schiffen, übers Meer. Europas Zivilgesellschaft half mit der Cap Anamur, und es entspann sich eine (mittlerweile vergessene) Debatte darum, wer denn jetzt diese fremden Menschen (deren Status, ob sie jetzt politische oder wirtschaftliche Flüchtlinge wären, nie so recht geklärt werden konnte) aufnehmen sollte.

André Glucksmann

APA/AFP/PIERRE BOUSSEL

Glucksmann hatte dazu eine klare, öffentliche und engagierte Position. Die wird im Nachruf zitiert und haut so richtig in die Magengrube der aktuellen, jetzigen, unsrigen Flüchtlings-Debatte. Zitat: "Wenn wir, die reichen Länder, unfähig sind 380.000 Menschen aufzunehmen, dann glaube ich nicht, dass wir zu anderen Zeiten 6 Millionen gerettet hätten. Ich glaube also, dass wir nicht nur die Ermordung von 380.000 Menschen weiter betreiben, sondern auch die von 6 Millionen, die schon tot sind."

Die 6 Millionen, das sage ich, weil davon auszugehen ist, dass die bewusste Geschichtslosigkeit der besorgten Bürger dafür gesorgt hat, dass das was 1979, als Glucksmann das sagte, europäisches Allgemeinwissen war, mittlerweile nicht mehr so recht präsent ist, die 6 Millionen ist die Zahl der im Nazi-Terror-Regime ermordeten Juden.

Hätte die Nazi-Ideologie nicht die Vernichtung und Ermordung, sondern "nur" die Vertreibung der Juden aus ihrem Groß-Deutschland beinhaltet, wie wäre die europäische Reaktion auf diese Fluchtbewegung gewesen? Das fragt Glucksmann und nimmt eine vergleichsweise leicht zu bewältigende Migration als moralischen Elchtest her. Und: Wie die Geschichte seither zeigt, war diese vietnamesische Flüchtlings-Bewegung mit einiger Leichtigkeit zu bewältigen.

Aktuell betrifft diese Frage nicht Frankreich, sondern in starkem Ausmaß neben Skandinavien Österreich und Deutschland, also die Verursacher des Holocaust. Die Glucksmann'sche Frage lässt sich hierzulande also nur ganz theoretisch stellen; ihr moralischer Kern ist aber virulent.

Nicht, dass sich davon irgendein in die Xenophobie eingegrabener Nationalist erreichen ließe. Wer aber über so etwas wie politischen Gestaltungswillen oder gar ein Mandat dazu verfügt, darf sich in aller Deutlichkeit angesprochen fühlen.