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Johanna Jaufer

Revival of the fittest... aber das war noch nicht alles.

8. 11. 2015 - 12:09

Zeig her deine Werte

Wer nimmt wem die Arbeit weg? Oder doch nicht? Und wem könnte man sie abnehmen, um allen zu helfen? Flucht- und Migrationsforscherin Julia Eckert im Gespräch.

Derzeit oft zu lesen: Die EU-Außengrenzen "aufzumachen" würde nur bedeuten, dass "noch mehr Menschen ihr Leben riskieren". Die Antwort des Bürgermeisters von Lesbos: Dann müssen wir sie eben mit Booten holen. Wie denken Sie darüber?

Die Menschen riskieren ja nur deshalb ihr Leben, weil die Wege so tödlich sind. Hätten sie sichere Wege, hierherzukommen, würden sie ihr Leben nicht riskieren. Insofern ist es natürlich genau in den Grenz-Praktiken der Schengen-Staaten begründet, dass Menschen zu Tode kommen, wenn sie nach Europa kommen wollen.

Wie könnte man sicherere Grenzübertritte ermöglichen? Per Wiedereinführung des "Botschafts-Asyls"?

Ja, eine ganz klare Sache wäre: die Visa-Regeln ändern, die Möglichkeit zu schaffen, dort Asyl zu beantragen, wo die Leute herkommen. Das ist aus verschiedenen Gründen schwierig, nicht nur rechtlich, sondern auch, weil viele Botschaften in den derzeitigen Konfliktgebieten geschlossen sind. Es wäre also keine vollständige Lösung. Aber es heißt auch, dass die Abschreckungs- und Abschottungsmaßnahmen grundlegend verändert werden müssen. Dass man zurückkommen muss zu einer Praxis, die Menschenleben rettet - egal, ob sie nun schon mit einem Visum ausgestattet sind oder nicht.

Sie haben sich beruflich für längere Zeit in Afghanistan aufgehalten - ein Land, aus dem ebenfalls Menschen auf der Flucht (vor Krieg und Naturkatastrophen) sind. Selbst wenn man sagen würde, "wir möchten abschrecken, wir möchten nicht, dass Menschen kommen, wir schalten Werbekampagnen und sagen den Menschen, dass es sich nicht auszahlt, zu kommen": Juckt es irgendjemanden vor Ort, dem gerade nichts bleibt, als alles hinter sich zu lassen, gesagt zu bekommen, "hör zu, bei uns ist es gar nicht so schön, wie du vielleicht denkst"?

Nein... bzw. es juckt die Leute natürlich schon. Ich weiß, dass es in letzter Zeit in Afghanistan ein Gerücht gab, dass alle AfghanInnen angeblich sofort wieder nach Afghanistan zurückgeschafft würden. Das hat große Angst ausgelöst. Solche Gerüchte zirkulieren in jeder Hinsicht. Aber es sind natürlich nicht die Minderungen der Sozialleistungen hierzulande, die die Leute von Migration oder Flucht abhalten. Das ist eine völlig falsche Vorstellung davon, wie Migrationsentscheidungen und/oder der Aufbruch zur Flucht von statten gehen, wenn man meint, dass Zäune, Drohnen, Abschreckungspropaganda oder der Reduzierung von Fürsorge irgendeine abschreckende Wirkung hätte. Solche Entscheidungen haben ganz andere Beweggründe.

Julia Eckert

Universität Bern

Julia Eckert ist Professorin für Sozialanthropologie an der Universität Bern mit den Forschungsschwerpunkten Rechtsanthropologie, Anthropologie des modernen Staates, Konflikttheorie und soziale Bewegungen.

Es ist also schlicht unsinnig, zu überlegen, mit welchen Mitteln man Menschen vielleicht "fernhalten" könnte?

Die Menschen, die sowieso einen Asylanspruch haben - das sind sehr viele: ein Großteil der derzeit Flüchtenden hätte quasi automatischen Anspruch auf Asyl; auch diese Menschen werden ferngehalten und sterben. Aber es gibt natürlich auch welche, wo die Lage sehr viel komplizierter ist. Auch hier müssen wir schon aufgrund langfristiger Überlegungen zu einer viel realistischeren Migrationspolitik kommen. Wie gesagt: Die Abschreckungspolitik, die ja in den letzten Jahren schon gang und gäbe war, hat Menschen nicht davon abgehalten, hierher zu kommen. Sie hat nur enorm hohe Kosten verursacht. Ökonomische Kosten: Wir stecken Milliarden in die Abschreckung, in die Grenzbefestigung, die wir natürlich viel sinnvoller einsetzen könnten. Gleichzeitig hat sie natürlich auch enorm hohe soziale Kosten verursacht, denn jedes Problem, das wir mit Zuwanderung haben, ist auf die Kriminalisierung solcher Zuwanderung zurückzuführen. Wir sehen am Vergleich mit "legaler" Einwanderung, dass es hier eigentlich sehr viel weniger Probleme, soziale Spannungen und Verwerfungen gibt als mit der illegalisierten Zuwanderung. Insofern müssen wir uns Gedanken machen, wie wir zu einer sehr viel pragmatischeren und realistischeren Umgangsform mit menschlicher Mobilität kommen.

Jede fünfte in Österreich lebende Person hat sogenannten "Migrationshintergrund", also mindestens einen Elternteil, der woanders geboren wurde oder selbst irgendwann im Lauf des Lebens den Umzug nach Österreich erlebt. Die Orte und Situationen aber, wo gefühlt Kontakt mit "dem Staat" besteht, sind das Amt, die Schule oder die Polizeiwachstube und dort sind viel weniger Menschen "mit Migrationshintergrund" als Gegenüber anzutreffen, als es dem Querschnitt der Bevölkerung entsprichen würde.

Ja. Ich denke, wenn sichtbare Minderheiten in viel mehr Feldern des gesellschaftlichen Lebens auch sichtbar vertreten wären - bei der Polizei, auch in den Medien - würde das viel selbstverständlicher. Ein Beispiel dafür ist Großbritannien, wo das sehr viel stärker der Fall ist. Wo es natürlich auch Konflikte gibt, die sich aber vielleicht an anderen Verwerfungen festmachen. Weil wir dort eine Diversität in allen gesellschaftlichen Schichten haben und durch alle Lebensbereiche hindurch. Das ist in den meisten Ländern Kontinentaleuropas nicht so und das wirft spezifische Probleme auf.

Wurde das gezielt forciert oder ist es eher einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung geschuldet?

Beides. Es ist auf die andere Geschichte von Migration in Großbritannien zurückzuführen, was natürlich auch mit dem britischen Kolonialismus zu tun hat. Es hat aber auch mit dem anderen Rechtssystem zu tun, denn etwa Frankreich, das die gleiche Kolonialgeschichte hat, hat dennoch keine vergleichbare "Diversitätsbreite". Es hat aber auch mit konkreten Antidiskriminierungsmaßnahmen zu tun, die in Großbritannien institutionalisiert wurden.

Der österreichische Außenminister plant, "Werteschulungen" einzuführen, die die Ankommenden durchlaufen sollen. Dabei soll es um Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung etc. gehen. Wenn man in Betracht zieht, dass ein knappes Drittel der ÖsterreicherInnen der Aussage "(ziemlich) zustimmt, dass man einen starken Führer haben sollte, der sich nicht um Wahlen und das Parlament kümmern muss", muss dann nicht konstatiert werden, dass auch das "hier Leben" mit den sogenannten "westlichen Werten" nicht dazu führt, dass verinnerlicht wird, worauf Verfassung und Menschenrechtskonvention basieren: Demokratie, Menschenrechte, Gleichberechtigung...

Ja, leider ist das so: Dass diese Demokratien, in denen wir leben, nicht automatisch zu demokratischen Einstellungen führen. Problematisch finde ich auch die Annahme, dass die Flüchtlinge diese Werte nicht sowieso schon teilen würden. Ich weiß gar nicht, worauf diese Annahme fußt. Viele Menschen, die kommen, teilen diese Werte in einer viel emphatischeren Weise als "wir", die wir ja daran gewöhnt sind, sie zu genießen. Es ist ja unter Umständen genau das Bedürfnis, in einer demokratischen Gesellschaft leben zu können, sicher leben zu können, das diese Leute hierher bringt. Insofern finde ich die Annahme, die Menschen seien von völlig anderen Werten beseelt, völlig unbegründet.

Geäußert wird im Rahmen von Protesten und Wutreden zum Thema etwa die große Sorge um Arbeitsplätze. Gleichzeitig lesen genau diese Menschen in Zeitungen, "wir haben genug, wir sind reiche Länder". Abgesehen von der Bewertung geäußerter Häme: Menschen erleben vielfach Reallohnverluste, Prekarisierung, Perspektivlosigkeit. Die "Krise" gibt es aber schon viele Jahre - nachdrückliche öffentliche Äußerungen und Proteste (auch) dagegen aber erst im Kontext mit Flucht- und Migrationsbewegungen. Warum?

Das ist etwas, das uns immer wieder begegnet: Die strukturelle Analyse der Zustände, die eigentlich die Ängste, auch diesen Protest und die Wut hervorrufen, ist viel zu komplex und diffus. Hier können Verantwortungen viel schwieriger zugeschrieben werden. Es ist ganz schlicht und ergreifend das Phänomen des "Sündenbocks", der Vereinfachung, der Komplexitätsreduktion, die dazu führt, dass sich solche Ängste in Fremdenfeindlichkeit Ausdruck verleihen. Zuwanderung, auch Flucht, hat ja auch viele ökonomische Potentiale. Die Ängste um ein ökonomisches Auskommen, eine Zukunft, einen Arbeitsplatz - Abstiegsängste, sind aber in unserer gegenwärtigen Lage durchaus begründet. Aber sie sind natürlich nicht begründet, weil Flüchtlinge hierherkommen. Sie sind aus anderen Krisensituationen heraus begründet, und hier müsste man ansetzen, um Lösungen zu finden und vermitteln.

Gibt es also für so viele gefühlt "keine AnsprechpartnerInnen" und nimmt "man" das deshalb gerne "an", dass (medial befeuert wird, wenn) Ankommende der eigenen diffusen Angst "ein Gesicht geben"?

Es wird ja auch von verantwortlichen PolitikerInnen befeuert, die tatsächlich AdressatInnen wären, um die Lösungen struktureller Probleme zumindest zu kommunizieren und fokussiert zu bearbeiten. Signale, die von der Politik ausgehen, sind auch hier eher solche, die Angst schüren und Bedrohungswahrnehmung befördern. Ich würde sagen, dass sich die Verantwortlichen ihrer Verantwortung hier nicht stellen.

Würde die sogenannte "Flüchtlingsfrage" nicht mehr zum Problem erklärt, nicht zur Entscheidungsfrage, OB man Menschen auf der Flucht vor Elend und Krieg hilft, sondern selbstverständlich davon ausgegangen, dass ja. Würden EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bzw. Donald Tusk oder Angela Merkel sagen, "wir verhindern, dass Menschen sterben, die zu uns kommen (möchten) - whatever it takes" - wie man es gesagt hat, als die Gemeinschaftswährung Euro akut bedroht war: Worum würde es dann sehr kurzfristig gehen müssen?

Ganz konkret würde ich sagen, müsste man sich Gedanken darüber machen, wie wir eine Gesellschaft finden können, in der sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Kompetenzen einen Raum fänden, in Würde zu leben. Wie wir neue Umverteilungsformen finden, die zu einer sozialen Sicherheit beitragen und diese Ängste mindern in einer Situation, wo Erwerbsarbeit immer "weniger wird". Wo insbesondere die Möglichkeiten für unqualifizierte Erwerbsarbeit eigentlich völlig durch die Maschinisierung ersetzt werden. Insofern müssten wir uns darüber Gedanken machen, welche neuen Institutionen wir hier entwickeln können, sodass jeder Mensch eine Rolle in dieser Gesellschaft hat. Unabhängig davon, wie viel Geld, wie viel Ausbildung etc. er hat.

Im Vergleich waren zum Beispiel die Fluchtbewegungen während der Balkankriege in den 1990er Jahren, als viele Menschen nach Österreich gekommen sind, nicht so detailliert und klar vor aller Augen mitzuerleben, weil es die digitalen Möglichkeiten von heute noch nicht gab. Ändert das auch die diskursive Gemengelage? Lässt sich dazu schon etwas sagen?

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie klar hier die Kausalitäten sind. Ich habe den Eindruck, auf der einen Seite hat natürlich diese Möglichkeit der direkten Beobachtung auch zu dieser ungeheuren zivilgesellschaftlichen Empathie und Hilfsbereitschaft - auch der Bereitschaft, sich (längerfristig) zu engagieren - geführt. Hier sind ja unheimlich viele auch sehr pragmatische Initiativen entstanden, die über die kurzfristigen Willkommensaktionen weit hinausgehen und längerfristig Strukturen schaffen wollen und das auch versuchen. Ich bin mir nicht sicher, welche Rolle dabei diese mediale Nähe gespielt hat. Ich weiß auch nicht, welche Rolle die mediale Nähe in der weiteren Beförderung der Angst hat. Ich glaube, es kann eben immer in beide Richtungen gehen. Die Bilder alleine geben nicht vor, in welche Richtung die Stimmung geht. Da spielen noch ganz andere Faktoren eine Rolle - wie eben die Signale, die aus der Politik kommen.

Es haben sich viele soziale Netze gebildet, die über den reinen Moment des Ankommens hinaus handeln. Wenn man als Regierung sieht: Es kommen sowieso und ohnehin weiter Menschen, egal von wie viel Zäunen oder Werteschulungen wir sprechen, und es gibt Menschen, die dem Staat hochorganisiert und professionell Arbeit abnehmen: Wenn diesen Menschen dann nicht irgendwann Arbeit abgenommen wird, hören die eher mutlos eingeknickt auf oder werden sie im Gegenteil politisch tätig, um mehr mitentscheiden zu können?

Es gibt auch hier wieder beide Richtungen. Es gibt solche, die ermüdet sind, aufgeben, weniger Erfahrungen haben und weniger wissen, wie sie mit den Hürden und Blockaden, die ihnen von Staatsseite entgegengestellt werden, umgehen sollen. Aber es gibt natürlich solche, die darüber gerade politisiert werden. Das reicht auch weit ins bürgerliche Lager sozusagen hinein: die es eigentlich gar nicht fassen können, dass sie sich so engagieren, und all die Probleme, mit denen sie es zu tun haben, kommen eigentlich von den Blockademaßnahmen der staatlichen Politik. Hürden bei der Übernahme von Patenschaften, Bürgschaften, der Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen ... bürokratische Hürden, mit denen diese so motivierten, engagierten Menschen zu kämpfen haben, die Zeit, Geld, alles Mögliche kosten, und genau das unmöglich machen, was jetzt nämlich anstünde: den Menschen, die kommen, so schnell wie möglich Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen. All diese Initiativen sind darauf ausgelegt, ganz pragmatisch und so schnell wie möglich Teilhabe zu ermöglichen. Damit diese Menschen auch zur Gesellschaft beitragen können. Hier wird einfach nur verhindert. Und es werden die Probleme geschaffen, die dann hinterher der Migration an sich zugeschrieben werden.

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