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Lukas Tagwerker

Beobachtungen beim Knüpfen des Teppichs, unter den ihr eure Ungereimtheiten kehrt.

5. 11. 2015 - 13:11

Viennale im Endsport

Die Macht des Kinos - inkl. Last-Minute-Tips

Ich wollte so gerne Capital Cuba sehen.

Ich wollte auch so gerne White Coal sehen.

Vor allem wollte ich unbedingt Contre-Pouvoirs sehen.

Albert Farkas wollte die Doku über die Redaktionsarbeit der algerischen Tageszeitung El Watan ("Die Heimat") auch sehen. Ihm ist es gelungen.

Ich glaube an Albert Farkas.

Er schreibt über Contre-Pouvoirs:

Die Journalistinnen und Journalisten der politisch liberalen Tageszeitung El Watan treffen sich im Frühjahr 2014 zu täglichen Redaktionskonferenzen in ihren Büros.

Diese Büros werden bald ausgedient haben, weil ein Wolkenkratzer als repräsentatives, prestigeträchtiges Hauptquartier für die Zeitung entsteht.

Viennale

Woher das Geld für den auffälligen Bau kommt, bleibt unklar, ebenso, wie groß der Grad der wirtschaftlichen Eigenständigkeit des Blattes tatsächlich ist, und sich Verflechtungen mit etwaigen Mutterverlagshäusern darstellen.

Errichtet wird der Turm jedenfalls von chinesischen Arbeitern, die ihr mobiles Identitätsbestätigungskit in Form historische Begebenheiten beschwörender Banner dabei haben. Im Innenpolitikressort ist ein Redakteur eher kommunistisch eingestellt, ein anderer möchte die Rumpfelemente seines religiösen Bekenntnisses nicht aus seinem Leben bannen, beide liefern sich besonnene, augenzwinkernde Scharmützel.

Und beide ekelt es in ihren Grundsätzen vor dem vorherrschenden, faserntief korrupten Regime von Langzeitpräsident Abd Al-Aziz Bouteflika, der sich in diesen Wochen, nach einem Schlaganfall kaum noch am Leben, dennoch mit allen Mitteln eine vierte Amtszeit sichern möchte.

Die Mitglieder des Teams sind hoffnungsvoll bezüglich der Konkurrenzfähigkeit rivalisierender Kandidaten, doch inmitten eines Meeres von post-arabischer-Frühlings-Anarchie sehen die politischen Eliten der globalen Player Bouteflika als Fels in der Brandung, und geben ihm einen realpolitischen Blankoscheck, den dieser prompt mit dem kolportierten Wahlergebnis von über 80% der Stimmen eincasht.

Am Ende bleibt Schock, Ungläubigkeit, und schiere Verzweiflung den Reporterinnen und Reportern, denen ihre Existenz in ihrer intellektuellen Blase inmitten dieses immens heterogenen Landes durchaus bewusst ist, ins Gesicht gemeißelt, während sie den Schlusspunkt des pseudo-demokratischen Zeremoniells im Fernsehen verfolgen.

Davon unbeeindruckt wird unterdessen weiterhin am neuen Redaktionsgebäude gearbeitet, von dem aus, wie durch eine final zitierte Sure aus dem Koran angedeutet werden soll, eines Tages noch ein entscheidender Einfluss ausgehen könnte, obwohl oder gerade weil es ein zunächst nur symbolisches Zeichen ist, ein Mast, und nicht ein Anker.

Viennale

99 homes

Wenn Margin Call der Film zur Lehman-Pleite ist, dann ist 99 homes das Filmereignis zur großen amerikanischen housing bubble.

Die Auswirkungen des skrupellosen Geschäfts mit Wohnraum zeigen sich in schmerzlicher Paradoxie:

Dennis wird mit Mutter und Sohn aus dem Langzeit-Traumhaus zwangsgeräumt, eine hochdramatische Szene zum Einstieg.

Sie haben nur wenige Minuten, um ihr Hab und Gut zusammenzuklauben. Die Räumungsmänner des Immobilienverwalters stehen im Verdacht, das für Dennis' Broterwerb essentielle Bauwerkzeug geklaut zu haben.

Als Dennis dem nachgeht, verwickelt er sich in eine Schlägerei, an deren Ende er selbst zum Knecht des privaten Imobilienmafiosi wird, zum Zwangsvollstrecker des zwielichtigen Zwangsvollstreckers.

Die geradezu hegelianische Parabel spielt mit dem Perspektivwechsel.

Dennis klopft nun bei Nachbarn an, bei Mitbürgern, bei Freunden der Familie, um sie (anfangs mit schwerem, selbstmitleidvollem Herzen) aus ihren Häusern schmeißen zu lassen.

Recht und Ordnung werden dabei gebogen und gebrochen, die Polizei spielt mit, vor seiner Familie verheimlicht Dennis seinen neuen, schmutzigen Job.

Er will das Geld nur, um sein altes, vertrautes Heim zurückzukaufen. "Don't get emotional about real estate!", rät ihm der abgebrühte Immo-Meister, der zahlreiche Gebäude in gated communities besitzt und mehrere Frauen unterhält. Ein Deal mit großen Playern soll eingefädelt werden, dafür müssen in kurzer Zeit 100 Häuser leergemacht werden, Methode egal.

99 homes ist ein Film über Schuld und Schein, über den Sozialdarwinismus, der ins US-amerikanische Selbstverständnis eingestrickt bleibt, über das Spinnennetz der brutalen Entsolidarisierung.

Der Film ist nicht nur sehenswert, weil die Krise des Kapitalismus die Kategorie Raum radikal umwertet. 99 homes ist ein dichtes, rasantes Kunstwerk, wegen der komplexen Dialoge für non-native-speaker unbedingt untertitelt oder synchronisiert zu empfehlen.

Viennale

De ce eu?

Die Viennale zeigt heuer viel Geheimpolizei.

Die türkische Geheimpolizei (in Abluka) kommt verdattert und verzweifelt rüber.

Die kaiserlich-chinesische Geheimpolizei (in Xiu Chun Dao) märtyrerhaft vergreist.

Die rumänische Geheimpolizei (aus der berüchtigten Securitate hervorgegangen) bleibt im Film De Ce Eu? - Warum Ich? - ein schattenhafter Staat im Staat, an dem der ans Recht glaubende Staatsanwalt Cristian scheitern muss.

Seine Korruptions-Ermittlungen gegen einen Justiz-Kollegen ergeben nicht genug Substanz für eine Anklage; als er diese sachgemäß einstellen will, bekommt er die Willkürdynamik des verrotteten Apparats zu spüren: Zwangsurlaub wegen Ungehorsam, Unterrichtsverbot an der Rechtsfakultät und Ermittlungen gegen ihn wegen illegaler Weitergabe von Dokumenten.

Wem kann er noch vertrauen? Wer kontrolliert sein Leben? Der Staatsanwalt versucht sich zu befreien und zerreißt die Fäden, an denen seine Gunst hing.

De Ce Eu? basiert auf einer wahren Geschichte. Der rumänische Staatsanwalt Cristian Panait starb am 10. April 2002. Es ist sein Originalbalkon, der im Film zu sehen ist und von dem die Hauptfigur auf den Asphalt fällt/springt(?).

Viennale

Kollege Albert Farkas, langjähriger Viennale-Beobachter, weiß, dass die "allerbesten Filme" immer "am letzten Viennale-Tag" laufen.

Am letzten Abend gibt es u.a. noch griechische Kurzfilme, einen portugiesischen Langfilm, einen argentinischen und später einen russischen Dokumentarfilm. Leinwand-Reisen nach Südkorea, in Mr.Oizos Wirklichkeit und in Charlie Kaufmans Märchenwelt werden noch angeboten.

Viennale-Liebende lassen sich von einem "ausverkauft" am anderen Ende der Telefonleitung nicht abschrecken.

Sie lassen sich eine halbe Stunde vor Filmbeginn auf die Warteliste für nicht abgeholte Restkarten setzen und genießen diesen Kick auch noch.