Erstellt am: 4. 11. 2015 - 15:34 Uhr
Wirtschaftsflüchtling
Seit ungefähr einem Jahr sammelt Sascha die dreckige Wäsche, repariert die Schränke und bringt Blumen zu den Zimmern in einem großen und respektierten Hotel im ersten Bezirk in Wien. Jeden Tag steht er gegen halb sieben auf, steigt in die Straßenbahn, wenn die Mehrheit der Wiener noch in ihrem warmen Bettchen schläft und macht sich auf den Weg zur Arbeit. Bald danach kommen die ersten arabischen Ölscheichs, amerikanischen Geschäftsleute oder russischen Oligarchen an, die ihr Geld in den Wiener Tourismus reinpumpen wollen. Und Sascha gibt sein Bestes, damit alle zufrieden sind.
Sonst lebt Sascha bescheiden. Von den 1100 Euro, die er monatlich verdient, schickt er die Hälfte an seine Eltern in der Ukraine. Sein Vater arbeitet bei einer Tankstelle und seine Mutter verkauft Ledermäntel in einem kleinen Geschäftchen. Ihre Löhne reichen nicht aus, um die Hypothek ihrer kleinen Wohnung im karpatischen Städtchen, wo sie leben, zu bezahlen. Deshalb hilft Sascha aus. Er geht kaum in Wien aus. Er kennt weder die Wiener Kaffeehauskultur, noch die modernen Restaurants in der Nähe des Hotels, wo er arbeitet. Sascha reist nicht in ferne Länder auf Urlaub. Zwei Mal im Jahr fährt er mit dem Zug nach Hause und kann seine Eltern und seinen Lieblingskaukasusschäferhund Stepan umarmen.
In der Ukraine hat Sascha in einer Fabrik gearbeitet, wo Teile für einen großen deutschen Autohersteller produziert werden. Sascha kann Deutsch und das war sein großer Vorteil. Für 70 Euro monatlich war er die Verbindung zwischen der Mutterfirma und der Fabrik in dem ukrainischen Städtchen.
Er wurde zu einer Schulung nach Deutschland geschickt. Vom Flughafen wurde er von Roland, dem Vertreter des großen deutschen Autoherstellers, abgeholt. Roland war ein riesiger Mensch, der kaum in seinen strengen, grauen Anzug passte. Sein Kragen war so fest um seinen Nacken zugeknöpft, dass seine dicken Wangen zu platzen drohten. Auf dem Weg vom Flughafen erklärte ihm Roland, dass in Deutschland hart gearbeitet und nicht gefaulenzt wird. Sascha war bereit nach dem deutschen Standard zu arbeiten. Er war bereit alles zu lernen.
Danach machte er zwei Wochen während seiner gesamten Schulung nichts. Roland und seine beiden Kollegen Thomas und Tobias, die wie Zwillinge aussahen mit ihren blonden Haaren und runden Brillen, saßen den ganzen Tag und schrieben etwas auf ihren Computern. Sascha versuchte vergebens, eine Aufgabe zu bekommen. „Was soll ich machen?“, fragte er jeden Tag verzweifelt. „Heute nicht Alexander, ich bin zu beschäftigt, frag' Thomas.“, antwortete Roland. Thomas hob seine runden Brillen und sagte: „Heute nicht Alexander, ich habe zu viele Aufgaben, frag' Tobias.“ Tobias hingegen zwitscherte nur kurz mit den Zähnen. So verlief Saschas Schulung in Deutschland. Am letzten Tag sagte Roland: „Alexander, deine Zeit bei uns ist fast gelaufen, jetzt wirst du unser Vertreter in der Ukraine. Tobias bringt dich in eine Pizzeria und ihr werdet gemeinsam eine Abschiedspizza essen!“ Tobias zwitscherte mit den Zähnen und zeigte zum Parkplatz des riesigen Industriekomplexes, wo sich die Büros der Autohersteller befanden. Die Pizza schmeckte nicht schlecht, allerdings musste sie Sascha selbst bezahlen. Roland kam gar nicht. Wahrscheinlich war er zu beschäftigt. Oder stand einfach nicht auf Pizza.
Und so leitete Sascha in der ukrainischen Fabrik die Produktion von Autoteilen, 40 Stunden wöchentlich für 70 Euro im Monat. Die Krise in der Ukraine trat ein. Die Ukrainische Grivna verlor an Wert und die deutsche Mutterfirma setzte die Bezahlung von 70 auf 40 Euro monatlich runter. Sascha rief Roland an und fragte nach einer Gehaltserhöhung. Nach einer zweitägigen Besprechung rief Roland zurück: „Wir haben entschieden, dass du ein wertvoller Mitarbeiter bist. Du hast bei uns eine gründliche Schulung durchgemacht. Deshalb wird dein Gehalt wieder auf 70 Euro erhöht. Aber schau, dass es niemand von den anderen Mitarbeitern erfährt, denn die werden weiter 40 Euro bekommen. Die Pizza hat doch super geschmeckt, nicht wahr?“
Genau nach diesem Satz entschied sich Sascha ein Wirtschaftsflüchtling zu werden.