Erstellt am: 2. 11. 2015 - 19:00 Uhr
Neue Überwachungswelle rollt über Europa
Die europäische Politik hat den Schock durch die Enthüllungen Edward Snowdens offenbar überwunden, denn nicht nur in Österreich werden nun neue Gesetze zur Überwachung durchgedrückt. In Großbritannien soll Innenministerin Theresa May am Mittwoch ein bereits 2012 gescheitertes Gesetz zur Vorratsspeicherung aller Internetverbindungen erneut im Parlament einbringen. In Österreich wartet das fertige neue Staatsschutzgesetz seit Wochen nur noch auf seine Verabschiedung im Ministerrat.
Das Anfang Oktober in Kraft getretene neue französische Überwachungsgesetz - eine Art Gegenstück zum US Patriot Act - ist bereits auf dem Weg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Klage wurde von einer der ältesten Journalistenvereinigungen Frankreichs eingereicht. Das neue Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in Deutschland wurde während der letzten paar Wochen ebenso in Rekordzeit von den parlamentarischen Gremien abgenickt und soll noch heuer in Kraft treten. Auch wenn diese Gesetzesvorhaben in ihren Dimensionen und Maßnahmen durchaus unterschiedlich sind, so sind ihre Gemeinsamkeiten nicht zu übersehen.

APA/AFP/EMMANUEL DUNAND
Parallelen in Frankreich und Österreich
Die erste davon ist, dass diese Gesetze gerade jetzt und nicht nur in diesen vier EU-Mitgliedsstaaten fast gleichzeitig verabschiedet werden, und sie ist selbsterklärend. Die Regierungen nützten erst die Verunsicherung der Öffentlichkeit durch Rückkehrer aus dem Syrien-Krieg und dann die Flüchtlingskrise, um in deren Windschatten Gesetze einzubringen, die vorher entweder nicht durchsetzbar oder bereits mehrfach gescheitert waren.
Das in Arbeit befindliche neue Staatsschutzgesetz in Österreich fällt genau in diese Kategorie, strukturell ähnelt es dem französischen "Projet de loi relatif au renseignement", weil in beiden polizeiliche und geheimdienstliche Befugnisse vermengt werden. In Österreich werden Ermittlungen unter dem Staatsschutzgesetz vom Richtervorbehalt freigestellt, anders als andere Polizeikollegen werden die Ermittler im Bundesamt für Verfassungsschutz in Hinkunft keinen Richter brauchen, dasselbe gilt auch bereits für Teile der französischen Polizei.

APA / Georg Hochmuth
Rechtsschutzbeauftragte statt Richter
In beiden Rechtsvorhaben werden die Beschränkungen beim Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie etwa IMSI-Catchern weitgehend aufgehoben, statt eines unabhängigen Richters ist dann ein interner Rechtsschutzbeauftragter für die juristische Überprüfung der Ermittlungen zuständig. Damit ist ein einziger Beamter, dem in bestimmten Fällen sogar die Einsicht in solche Ermittlungen verweigert werden kann, dafür zuständig, dass seine Kollegen nicht jenseits der Rechtsstaatlichkeit ermitteln.
Die in dieser Hinsicht wohl gefährlichsten Gesetzeselemente ѕind die neun neuen Landesämter für Verfassungsschutz, die auf der Basis von selbst eingeschätzten Gefährdungswahrscheinlichkeiten mit erweiterten Befugnissen agieren können und dabei weder einer Kontrolle noch einer nachträglichen Evaluierung unterliegen. Wie gefährlich der ebenfalls vorgesehene Einsatz von bezahlten Spitzeln ist, zeigt die Praxis in Deutschland, wo ein Verbot der offen neonazistischen NPD nur deshalb mehrfach scheiterte, weil der NPD-Vorstand mit Polizeispitzeln durchsetzt war.
Deutsche Novelle gegen Whistleblower
Deutschland war auch Vorreiter bei der Vorratsdatenspeicherung, die bereits 2007 eingeführt und 2010 höchstgerichtlich wegen Vefassungswidrigkeit verworfen wurde, 2014 wurde die entsprechende EU-Richtlinie vom EuGH sogar europaweit annulliert. Das hat die deutsche Koalitionsregierung jedoch nicht davon abgehalten, ein neues Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung in der Rekordzeit von etwas mehr als einer Woche durchzuziehen.
Die Speicherfrist ist gegenüber der alten Regelung zwar sehr verkürzt, dafür wurde der Gesetzestext um den hochproblematischen Tatbestand der "Datenhehlerei" erweitert. Zwar sind durch einen Querverweis auf § 53 der deutschen Strafprozessordnung Journalisten davon ausgenommen, Blogger sind bereits in einer Grauzone, Whistleblower sind jedoch direkt der Verfolgung ausgesetzt.

Public Domain
Nach der EuGH-Entscheidung
Während die jeweiligen nationalen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung nach dem EuGH-Urteil von den Regierungen Österreichs und anderer Staaten außer Kraft gesetzt wurden, hat eine ganze Reihe von EU-Mitgliedsstaaten die EuGH-Entscheidung bis heute erfolgreich ignoriert oder die Gesetze durch formale Änderungen immunisiert. In Frankreich wie in Großbritannien wurden sogar Notstandsgesetze strapaziert, um die Abschaffung der Vorratsdatenspeicherung zu verhindern, in England wurde das Notstandsgesetz DRIPA jedoch im Juli gerichtlich verworfen.
Nachdem der EuGH die Vorratsdatenspeicherung im April 2014 gekippt hatte, war der Verfassungsgerichtshof in Wien als erstes nationales Höchstgericht am Zug.
Davor war ein in den Medien besser als "Snoopers Charter" ("Schnüffelparagraf") bekannte wesentlich weitergehendes Überwachungsgesetz 2012 von David Camerons damaligem Koalitionspartner, den Liberaldemokraten, geblockt worden. Die nun angeblich vorgesehene Speicherung des gesamten Internetverkehrs auf ein Jahr geht bemerkenswerterweise bereits auf Pläne der sozialdemokratischen Regierung Tony Blair im Jahr 2000 zurück.

APA/AFP/CHARLY TRIBALLEAU
Spin-Doctoring, gezielte Leaks
"Angeblich" deshalb, weil es noch keine Gesetzesvorlage zu lesen gibt, denn der Text wird bis zu seiner Publikation durch die britische Innenministerin Theresa May am Mittwoch geheim gehalten. Alles bis dato öffentlich Bekannnte geht auf gezielte Leaks hoher Beamter zurück, die ungeniertes Spin-Doctoring in den Medien betreiben, seit das Gesetz in der jährlichen Ansprache von Königin Elisabeth im Mai wieder einmal angekündigt worden war.
EU-Kommission, Ministerrat und das konservative Lager im EU-Parlament brachten
die vom EuGH annullierte Vorratsdatenspeicherung direkt nach dem Anschlag auf "Charlie Hebdo" im Jänner 2015 wieder aufs Tapet.
In den letzten Wochen hat sich das Spin-Doctoring rund um den Start des neuen "James Bond"-Films in England noch intensiviert. Medien wie das Murdoch-Blatt "The Times" waren voll von Berichten über - natürlich anonym zitierte - GCHQ-Agenten, deren wichtige Arbeit durch Verschlüsselung der Inhalte immer schwieriger werde, Mitarbeiter des GCHQ traten laut "Guardian" sogar im Kinderfernsehen auf. Zudem wurde in der vergangenen Woche gar noch in die Welt gesetzt, dass die britischen Provider eventuell auch alle Inhaltsdaten speichern müssten, dann wurde plangemäß zurückgerudert. So wurde in britischen Medien übereinstimmend berichtet, dass die seit Jahren ventilierten Pläne der Regierung David Camerons, Verschlüsselung nur noch mit Hintertüren zuzulassen, nun vom Tisch seien.

AFP
"Goldene Schlüssel"
Diese Pläne, die seit 20 Jahren abwechselnd in den USA und in Europa periodisch wiederkehren, sind von den technischen und wirtschaftlichen Aspekten her gleichermaßen lächerlich, weil nicht umsetzbar. Ab Oktober 2014 hatten FBI-Direktor James Comey, der Anti-Terror-Koordinator der EU, Gilles de Kerchove, die Direktion des GCHQ und NSA-Direktor Michael Rogers diese Forderung nach "Goldene Schlüssel" genannten Hintertüren in Sozialen Netzen wie Facebook bis in den EU-Ministerrat getragen.
Dort wurde sie vor allem von Konservativen aber auch Sozialdemokraten sofort aufgegriffen, "Hintertüren" wurden dabei in "Vordertüren" umbenannt, wie auch in Deutschland nun nicht mehr von "Vorratsdatenspeicherung", sondern "Höchstspeicherfrist" die Rede ist. Damit ist zwar der wohl penetranteste politische Euphemismus der letzten Jahre nun endlich vom Tisch, die Tatsache, dass es sich erneut um anlasslose Erfassung und Speicherung aller Kommunikationsdaten aus dem Telefoniebereich "auf Vorrat" handelt, bleibt davon unberührt.
Der AK Vorrat Österreich, der schon die Vorratsdaten vor den EuGH gebracht hatte, bekämpft das Staatsschutzgesetz mit einer Petition
Fazit und Ausblick
Nicht nur in Frankreich zeichnet sich eine höchstgerichtliche Entscheidung zu den neuen Überwachungsregelungen ab. Auch in Deutschland ist jetzt schon abzusehen, dass eine erneute Verfassungsklage gegen das nunmehrige "Höchstspeicherfristgesetz" nur noch eine Frage des Zeitpunktes ist. Ähnliches gilt für Österreich, nachdem der Ministerrat das Staatsschutzgesetz abgesegnet hat. Aus England kamen am Wochenende politische Signale - wieder in Form von inoffiziellen Leaks -, die auf eine mögliche Rücknahme bestimmter, umstrittener Punkte hindeuten. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden auch hier wieder die Höchstgerichte als letzte Bastion der Rechtsstaatlichkeit agieren müssen, die von konservativen wie sozialdemokratischen Politikern gleichermaßen unterminiert wird.