Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Wenn es nicht mehr so richtig leuchtet"

Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

1. 11. 2015 - 13:41

Wenn es nicht mehr so richtig leuchtet

Der Song zum Sonntag: Grimes - "Flesh without Blood"

  • Alle Songs zum Sonntag auf FM4
  • Auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar macht sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song seine Gedanken

Diese Woche ist also in dem Maße Grimes-Woche gewesen, dass gar das Zeitmagazin, die farbige Zeitschriften-Beilage der ehrwürdigen Wochenzeitung "DIE ZEIT", die kanadische Musikerin auf ihr Cover gehievt hat. Leider ist den Machern wieder einmal nichts Besseres eingefallen, als Grimes mit dem öden Stehsatz "Die neue Madonna" zu betiteln – es muss mal wieder einem vielleicht eher gesetzten Publikum diese grelle, geile Quatschmusik schmackhaft gemacht werden.

Freilich ist Grimes keine neue Madonna, kein neues Irgendwas und auch keine neue Irgendwer. Grimes ist eine singuläre Erfindung, die Vergleichbares sucht. Eine Kunstfigur, ein Geflecht aus Ideen, Attitude und Moden, ersonnen von der Musikerin und der unerschöpflichen Contentmaschine Claire Boucher.

Grimes

Holly Andres

Grimes

Diese Woche hat Grimes mit dem 6. November endlich und recht kurzfristig das Releasedatum ihres vierten Albums "Art Angels" bekanntgegeben, samt Artwork und Tracklist. Mittlerweile hat sie mit dem gemeinsam mit der taiwanesischen Rapperin Aristophanes aufgenommenen Track "SCREAM" schon ein weiteres weltbewegendes Stück aus "Art Angels" veröffentlicht - der Pophit aber, der große, prächtige, ist der vor einer Woche erschienene Song "Flesh without Blood". Madonna-Werdung, das soll also nach wie vor Mainstream-Werdung und Star-Werdung bedeuten.

In "Flesh without Blood" nähert sich Grimes einem gut verhandelten Pop-Thema: Sie buchstabiert die Floskeln und Slogans des Breakup-Songs durch und überhöht sie ins Absurde, entzaubert sie. "You claw, you fight, you loo-oo-se", heißt es gleich zu Beginn, danach "got a doll that looks just like you". Es dürfte sich nicht um eine Puppe handeln, die schöne Erinnerungen am Leben erhalten soll, vielmehr um den Gegenstand eventueller Voodoo-Zeremonien – sollten sie denn irgendwann einmal nötig sein.

Eine Liebe verblasst, eine Beziehung fadet aus. "Flesh without Blood" – der Körper macht vielleicht noch weiter, nicht bloß in sexueller Hinsicht gedacht, Saft und Leben sind jedoch Mangelware. Einige wunderbare, schlichte Zeilen hat Grimes in dieses altbekannte Szenario gepackt: "Your voice, it had the perfect glow", oder auch, "I don't see the light I saw in you before".

Nun ist "Flesh without Blood" aber eben kein Weltuntergangs- und kein Trübsalblasesong. Es ist einer der mitreißendsten, beschwingtesten Songs im Werk von Grimes, auch wenn ein klarer Refrain zunächst schwer auszumachen ist und die Künstlerin mit ihrer gläsernen Stimme mitunter wieder einmal in vokalbellosen fremden Zungen singt.

Hinter dem metallenen, monotonen Beat, unter den bisweilen in den Track geschnittenen Breakbeats trägt eine Gitarre, bislang ungewohnt bei Grimes, das Stück. Hier glüht eine kaugummifarbene Pop-Punk-Aura - der von Kelly Clarksons Jahrhunderthit "Since U Been Gone" nicht unähnlich.

Thematisch sind die Songs verwandt: Hier wird nicht nachgeweint, sondern werden aus eigener Kraft neue Fenster aufgemacht. "And I Don't Care Anymore", singt Grimes; gleichzeitig gelingt ihr in diesem Lied, mithilfe schon oft benutzter Phrasen eine ambivalente Gefühlslage zu skizzieren.

Echte Sehnsucht und Schmerz, trotziger Stolz, gerne genommener Abschied und freudiger Aufbruch. Unter der glatten, schillernden Oberfläche tosen bekanntlich Stürme.