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28. 10. 2015 - 15:12

"Das Schlimmste, was ich bisher gesehen habe"

Die freiwillige Flüchtlingshelferin Andrea Schwaiger hat in österreichischen, ungarischen und kroatischen Flüchtlingslagern geholfen. Die Zustände im slowenischen Brežice aber haben sie mehr erschüttert als alles zuvor.

Erneut sind tausende Schutzsuchende auf der Balkanroute von der Türkei über Griechenland Richtung Norden unterwegs. In den Flüchtlingslagern und Transitcamps entlang der Route helfen seit Sommer viele Freiwillige, die notwendigste Versorgung der Schutzsuchenden sicherzustellen. Die Oberösterreicherin Andrea Schwaiger – früher Krankenschwester, jetzt selbständig - war seit August in mehreren Lagern in Österreich, Ungarn, Kroatien und zuletzt im slowenischen Brežice.

Wie kam es dazu, dass sie seit dem Sommer in mehreren Flüchtlingslagern als freiwillige Helferin gearbeitet haben?

Im August wurden die Bilder immer präsenter. Man fängt im Kleinen an, vielleicht mit Sachspenden, fährt nach Traiskirchen, sieht dort andere Bilder und beschäftigt sich intensiver mit der Krise. Mich hat das so mitgenommen, dass ich nicht mehr aufhören konnte, zu helfen.

Wie haben sie die humanitäte Situation im slowenischen Brežice erlebt?

Slowenien war bisher das schlimmste, was ich gesehen habe. Schlimmer als Ungarn, schlimmer als Kroatien. Es war erschütternd und einfach nur furchtbar.

Wie sah ihr Alltag im Lager in Brežice aus?

Es ist so, dass ich die meiste Zeit nicht direkt in Brežice war, weil dort der Zugang sehr, sehr beschränkt war und wir immer nur für ganz kurze Zeit dort sein durften. In einem Medizinzelt in einem Nachbarort habe ich als Krankenschwester gearbeitet, manchmal 24 Stunden durchgehend. Für Brežice selbst waren wir sozusagen auf Standby - immer, wenn uns die Polizei erlaubt hat, dass wir Essen und Trinken verteilen dürfen, haben wir das getan. Zwischendurch haben wir versucht, die Leute zu beruhigen, ihnen Informationen weiterzugeben – aber es war ganz, ganz wenig, was wir tun konnten.

Migrants and asylum seekers walk towards a bus as they leave a refugee centre in Brezice in eastern Slovenia on October 24, 2015.

APA/AFP/Jure Makovec

Wie hat die Kooperation mit der Polizei und den Behörden in Slowenien funktioniert?

Es war ganz schwierig – fast ein Eiertanz. Man musste ständig schauen, dass das Einvernehmen gut ist, denn dann lassen sie einen mehr machen. Man ist sehr auf den guten Willen der Polizei angewiesen und manchmal kippt der einfach, man weiß aber nicht warum. Da werden auf einmal Sachen, die total gut funktioniert haben, nicht mehr erlaubt. Einmal hat das Tee Ausschenken in der Nacht total toll funktioniert, aber am nächsten Tag durften wir das einfach nicht mehr machen.

Mit welcher Begründung?

Es gibt keine Begründung. Man weiß es einfach nicht, aber es geht zu Lasten der Flüchtlinge.

Wieviel Information erhalten die Flüchtlinge? Gibt es z.B. Dolmetscher?

Es gehen schon zu uns nur wenige Informationen weiter, geschweige denn an die Flüchtlinge. In Brežice habe ich keinen einzigen Dolmetscher gesehen. Wir haben den Menschen, die Englisch konnten, erklärt, wo sie sind, wie es weitergeht, einfach um sie zu beruhigen. Je mehr Informationen die Menschen haben, umso ruhiger sind sie. Wenn sie wissen, dass sie in einem Transitlager nur ein paar Stunden sein müssen, bis es weitergeht, dann ist das etwas Anderes, als wenn sie nicht wissen, wie lang das jetzt geht. Aber es sprechen nicht alle Englisch und es können sich auch die Flüchtlinge untereinander nicht alle verständigen.

Wie übernachten die Flüchtlinge in Brežice?

In Brežice übernachten die Flüchtlinge im Freien, und das ist auch der Punkt, der uns ganz schwer besorgt. Die Temperaturen waren in der Früh und in der Nacht schon nahe am Gefrierpunkt. Ab morgen ist Regen vorrausgesagt. Wenn es so weitergeht wie jetzt, dann ist es eine Frage der Zeit, bis es den ersten Toten gibt.

Wie geht es ihnen, wenn sie als Helferin da stehen und hunderte Menschen beim Übernachten im Freien sehen? Was tut man da?

Man fühlt sich so ohnmächtig. Man fühlt sich wütend. Man fühlt sich auch schuldig, weil man selbst eine Jacke hat und die auch noch hergeben will. Man ist unendlich traurig und will weinen, wenn man selbst Kinder hat und dort Kinder sieht, die im Freien schlafen und weiß, die müssten eigentlich in einem warmen Bett liegen. Das darf nicht so sein. Mitten in Europa. Aber wenn man zur Polizei geht, um mit ihr zu streiten, dann schmeißen sie die paar Helfer, die dort sein dürfen, auch noch aus dem Lager raus. Es war eine Grenzsituation, wie ich sie noch nie erlebt habe.

Wie ist die Nahrungsmittelversorgung in Brežice?

Die Nahrungsmittelversorgung ist ganz schlecht. Man muss dazusagen, dass sie für die Flüchtlinge auch schon davor schlecht ist – die Menschen gehen von einem Transitcamp ins nächste und werden dort nur sehr unzureichend versorgt, weil in jedem Camp gesagt wird: Die sind ja nur ein paar Stunden bei uns. Dann kommen sie nach Brežice, wo das Rote Kreuz einmal am Tag ein bisschen Toastbrot und zwei Scheiben Käse verteilt. Es ist auch immer sehr unsicher, wann und wie es das gibt. Wir Freiwillige waren mit Essen und mit Suppenküchen dort und hätten sogar warme Suppen austeilen können, aber es wurde uns einfach nicht möglich gemacht.

Welche NGOs sind in Brežice vor Ort?

In benachbarten Orten ist die slowenische Caritas, dort funktioniert die Versorgung besser. In Brežice ist nur das slowenische Rote Kreuz, und dort funktioniert so gut wie gar nichts. Ich war überrascht, dass das Rote Kreuz Sloweniens so wenig agiert. In den letzten Tagen war UNHCR vor Ort, die haben aber nur beobachtende Funktion und dürfen nicht eingreifen. Ich habe mit einer UNHCR-Mitarbeiterin gesprochen, die verzweifelt war, weil sie nichts tun durfte.

Was wird in Brežice am dringendsten benötigt?

Alles. Es braucht eine Struktur, eine Organisation. In anderen, weitaus größeren Camps, werden jeden Tag fünf- bis siebentausend Flüchtlinge durchgeschleust, Freiwillige haben Zugang zum Lager und dürfen helfen. Aber in Brežice hatte ich das Gefühl, dass es dort niemanden interessiert, sich Kenntnisse von anderen, gut funktionierenden Lagern anzueignen. In Brežice braucht es aber auch Decken und Essen, und eine menschliche Behandlung der Leute. Zum Teil ist in Brežice eine Spezialeinheit der Polizei verantwortlich. Bei Soldaten der Armee und den lokalen Polizisten hatte ich oft das Gefühl, dass die schon hilfsbereit und menschlich waren – aber die Spezialeinheiten agieren sehr aggressiv und unmenschlich.

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner kündigt die Errichtung von Grenzzäunen an. Was halten sie davon?

Ich habe das gestern gelesen, als ich gerade aus dieser Extremsituation in Brežice zurückgekommen sind. Ich habe im Medizinzelt furchtbare Dinge gesehen und gehört. Und dann lese ich, dass Grenzzäune errichtet werden sollen. Es ist zum Weinen. Wenn jemand bereit ist, mit seinen Kindern in einem Schlauchboot übers Mittelmeer zu fahren, dann ist er auch bereit, über einen Zaun zu steigen. Wenn bei uns Krieg wäre, würde ich meine Kinder packen und sie über die halbe Welt transportieren, damit sie in Sicherheit leben können.

Werden sie wieder in ein Lager gehen, um zu helfen?

Auf jeden Fall. Ich bin gestern mit schwerem Herzen aus Brežice weggefahren. Es wird noch länger Hilfe nötig sein, und solange werde ich weiterhelfen – und es gibt Gott sei Dank ganz viele Menschen, die so denken wie ich.

Und die Menschen, die selbst nicht bereit oder in der Lage sind, in Flüchtlingslager zu fahren, so wie sie das tun – wie sollen sie am besten helfen?

Sachspenden organisieren und sortieren! Aber was mir persönlich auch schon oft hilft sind Menschen, die zu mir kommen und sagen, dass sie das klasse finden, was wir tun – das Gefühl, dass da auch Menschen dahinterstehen, ist wichtig und tut gut. Ich bitte alle Menschen, hinzuschauen und nicht wegzuschauen.