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Erich Möchel

Netzpolitik, Datenschutz - und Spaß am Gerät.

27. 10. 2015 - 14:17

EU-Parlament verabschiedet sich von Netzneutralität

Der Begriff "Netzneutralität" ist in der heute verabschiedeten EU-Verordnung nicht mehr enthalten, Schlupflöcher für Telekoms und Netzsperren blieben drin.

Die Verordnung zum "digitalen Binnenmarkt" ist aller Kritik zum Trotz heute genauso verabschiedet worden, wie es von Ministerrat, Kommission und den Telekoms von Anfang an geplant war. Ganz offensichtlich war dabei eine Art von großer Koalition am Werk, die sich vorab darauf geeinigt hatte, den Text völlig unverändert zu verabschieden. Die Sozialdemokraten, die noch vor einem Jahr zusammen mit Liberalen und Grünen eine wesentlich fortschrittlichere Regelung, wie sie in den USA Anfang des Jahres beschlossen worden war, unterstützt hatten, stimmten nun großteils mit den Konservativen für einen Text, in dem eine ganze Reihe von Schlupflöchern enthalten ist.

Mit Verweis auf "drohende Überlastung" können die Telekoms nun Datenverkehr priorisieren oder nicht näher definierte, "spezielle Dienste" kostenpflichtig anbieten. Der Begriff "Netzneutralität" ist im gesamten Text nicht mehr enthalten, denn der entsprechende Änderungsantrag 19 mit einer Definition von Netzneutralität wurde wie sämtliche anderen Änderungen von einer Mehrheit abgelehnt. Die geplante Abschaffung der Roaminggebühren 2017 ist ebenso kein Meilenstein, da diese ohnehin 2018 ausgelaufen wären.

Amendment 19 zur Netzneutralität

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Änderungsantrag 19 bei der heutigen Abstimmung mit der Definition des Begriffes. Diese Passage war bereits in den Trilog-Verhandlungen des Frühjahrs wie alle anderen Erwähnungen von "Netzneutralität" aus dem Text eliminiert worden.

Der Anfang im Jahr 2011

Der Prozess hatte bereits Anfang Oktober 2011 mit einer Konsultation des EU-Dachverbands der europäischen Telekomregulierer (BEREC) zum Thema "Netzneutralität" begonnen. Die Behörden wollten von interessierten Gruppen wissen, wie der gleichberechtigte Datenverkehr im Netz künftig sichergestellt werden sollte. Der Industrieausschuss hatte da aber bereits einen ersten Entwurf für den digitalen Markt in Arbeit, dem die Handschrift der Telekoms überdeutlich anzusehen war.

Wie schon die Einleitung das Entwurfs von Anfang Oktober 2011 zeigte, sollte die Netzneutralität zum Spielball im Match einer Handvoll europäischer Großprovider werden, solange in den AGB nur darauf hingewiesen wurde.

Die Mobilfunktöchter der eingesessenen Platzhirsche sahen sich um diese Zeit mit schnellen Zuwächsen beim Datenvolumen konfrontiert, was weniger in den Funkzellen - die waren bereits davor umgerüstet worden - als vielmehr beim "Backhaul" zu Engpässen führte. Die bis dahin weitgehend übliche Anbindung der einzelnen Masten über Richtfunkstrecken oder gemietete DSL-Leitungen an die Telefonienetze erwies sich als nicht mehr zeitgemäß, weil zu schwach. Den dadurch nötig gewordenen Ausbau der Glasfaser-Backbones aber wollten sich die Telekoms wenigstens in Teilen von den Inhalteanbietern finanzieren lassen, also in erster Linie den Internetkonzernen aus den USA.

Gelöschte passage zur Netzneutralität

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Der Stand im Mai 2015: links die Version des Parlaments, rechts die Reaktion des Ministerrats, die sich im Trilog durchsetzte

"Transparenz" als Freibrief

Ausgewählte Dienste mit viel Verkehr wie YouTube sollten nur noch gegen Aufpreis angeboten werden, das hatte die niederländische KPN nach schlechten Geschäftsergebnissen Anfang 2011 angekündigt. Dasselbe hatte die KPN auch mit Skype geplant, weil Skype dem eigenen Geschäftsmodell abträglich war. Zusammen mit T-Mobile hatte man vor vier Jahren gegen das Netzneutralitätsgesetz in den Niederlanden heftig lobbyiert, die dann aber als erster EU-Mitgliedsstaat eine ähnlich genaue Regelung ausgearbeitet hatten, wie sie 2015 in den USA verabschiedet worden war.

Bereits in diesem Entwurf des Ausschusses zeigte sich eine Tendenz, die sich dann im Lauf der Gesetzwerdung immer deutlicher abzeichnete. Die auffällig Häufung des Begriffs "Transparenz" bedeutete bei näherer Betrachtung des Texts, dass die Telekoms sperren (oder nur gegen Aufpreis liefern) können, was immer sie wollen, es muss nur in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen stehen. Den Rest werde der Markt schon regeln. So hanebüchen wurde argumentiert angesichts des allgemein üblichen beschränkten Zugangs für Verbraucher in 28 nationalen Märkten, die allesamt von Ex-Monopolisten, nämlich den Telekoms, dominiert werden.

Ausriss aus der EU-Verordnung

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In der Trilog-Version vom Mai 2015 wurde nicht nur die Definition des Begriffes, sondern auch alle anderen Erwähnungen von "Netzneutralität" systematisch eliminiert

"Spezielle Dienste" und kein Richter

Anfang 2014 wurde die Betonung von "speziellen Services" neu in den Diskurs eingeführt, dafür wurde der Begriff der "Transparenz" im Text ebenso auffällig zurückgefahren, wie er davor forciert worden war. Von da an war von Netzsperren die Rede, für die keine richterliche Entscheidung erforderlich war. Dieser Teil wurde von britischen Konservativen in den Text urgiert, die damit ihre eigene, restriktive Gesetzgebung zu Netzsperren und verpflichtenden Pornofiltern auf europäischer Ebene absegnen lassen wollten.

"Open Internet", nächster Dreh am Wording

Ende Februar 2014 war dann die Verordnung zum "digitalen Binnenmarkt" alias Netzneutralität bereits durch vier parlamentarische Ausschüsse gegangen, in denen eine Reihe von Passagen wieder geändert oder gestrichen wurden, die das bisherige Regime der Gleichbehandlung des Internetverkehrs auf den Kopf gestellt hätten. Der Industrieausschuss (ITRE) ging dann daran, die Änderungen in eine neue konsolidierte Fassung des Entwurfs zur Verordnung für einen "gemeinsamen Markt in der elektronischen Kommunikation" einzuarbeiten.

Die EU-Kommission benutzte die Novelle im Frühjahr 2014, um einen Monat vor den EU-Wahlen verkünden zu können, dass die unpopulären Roaminggebühren weitgehend abgeschafft würden. Die Abschaffung der Netzneutralität sollte als Kompensation der Telekoms für entgangene Roaminggebühren dienen

In dieser Fassung des ITRE waren nicht nur die "spezialisierten Dienste" noch prominenter vertreten, auch trickreiches Wording wurde erneut eingefügt. In Rezital 50 dieser Fassung des Entwurfs hieß es etwa dazu: "Anbieter von Inhalten, Anwendungen und Diensten sollten auch weiterhin frei sein, spezielle Servicevereinbarungen in definierter Qualität abzuschließen, solange solche Vereinbarungen die allgemeine Güte des Internetzugangs nicht beeinträchtigen". Die Übersetzung: Telekoms können die bevorzugte Weiterleitung etwa von YouTube-Videos an ihre Kunden gegen einen Aufpreis anbieten, solange sie dies als "spezialisierten Dienst" definieren. Und wieder wurde heftig am Wording gedreht, zum Begriff "Netzneutralität", der von Anfang an in allen Entwürfen enthalten war, jeweils "offenes Internet" hinzugefügt und damit suggeriert, dass es daneben noch ein zweites, eben ein exklusives Internet zu haben gibt.

Günther Öttinger

Martin Kraft/no copyright

Der für die digitale Agenda zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger

Mehrheit im Parlament für Beibehaltung

Im April 2014 stimmte eine Koalition aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen mit einer großen Mehrheit von 534 Stimmen für die Beibehaltung der wichtigsten Regeln zur Netzneutralität. Eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung spielte die liberale Fraktion (ALDE). Während bei Sozialdemokraten und Grünen der Konsumentenschutz gegen Ungleichbehandlung eher den Ausschlag gab, hatten die Liberalen Grund zu befürchten, dass gerade die vielen kleinen und mittleren europäischen Unternehmen aus dem Bereich der Internetservices bei der Auseinandersetzung zwischen den Unternehmensriesen aus den USA und Europa unter die Räder kommen würden.

Dann war der Ministerrat am Zug, der hier ebenfalls zustimmen muss. Im November 2014 wurde klar, dass der Rat nicht daran dachte, den Parlamentsbeschluss zu respektieren. Anstatt von Rechten wie jenem auf Informationsfreiheit, das eine Gleichbehandlung aller Content-Daten beim Transport voraussetzt, war von "Traffic Management" die Rede, wie nämlich mit dem Datenverkehr bei drohender Überlastung der Netzwerke umzugehen sei.

Breite Ausnahmen im Rat

Hier sah das Ratspapier schon breite Ausnahmeregelungen von der Gleichbehandlung vor. Internetprovider sollten in den Verkehr nach eigenem Dafürhalten eingreifen und Websites selbst oder auf behördliche Aufforderung, jedenfalls aber ohne Gerichtsurteil blockieren können. Der Text war dabei so breit und allgemein gehalten, dass aus diesen Notfallmaßnahmen sozusagen die allgemeinen Regeln für die Behandlung aller Daten abgeleitet werden.

Andrus Ansip, Vizepräsident der EU-Kommission

CC by SA 3.0 / Magnus Fröderberg

CC BY-SA 3.0, Vizepräsident der Kommission Andrus Ansip

Die Aussagen des zuständigen Kommissars Günther Oettinger und des für den gesamten digitalen Binnenmarkt verantwortlichen Vizepräsidenten Andrus Ansip gingen um diese Zeit immer weiter auseinander. Während Ansip auf einer Verankerung der Netzneutralität beharrte und damit dem Willen einer Mehrheit im Parlament entsprach, war von Oettinger von einer "abgestuften" Netzneutralität die Rede. Dazu sprach sich auch der Kommissar, der eigentlich die Digitalisierung vorantreiben sollte, für eine Art Leistungsschutzrecht aus, um die "intellektuellen Werte" aus Europa zu schützen.

Verleger, "E-Health", Automobile

Hinter dieser Phrase steckte die Forderung der Verbände von Zeitungsverlegern, die für die Aufnahme ihrer Inhalte in den Suchindex etwa von Google kassieren wollten. Eine entsprechende Kampagne der Verlage fuhr da gerade in Deutschland spektakulär an die Wand, auch der scheinbar allmächtige Verlag Axel Springer musste klein beigeben. Die auf eigenen Wunsch erfolgte Löschung der Springer-Inhalte hatte zu einer Pulverisierung der Quoten geführt.

Die US-Telekombehörde FCC stimmte im Februar 2015 gegen kostenpflichtige Überholspuren im Internet. Mit drei zu zwei Stimmen wurde eine neue Regulierung angenommen, die Internetanbieter zu einer strikten Gleichbehandlung aller Datenpakete verpflichtet.

Die "speziellen Services", denen die Ausnahmeregelungen zugute kommen sollten, wurden in Folge nie genauer definiert. Einmal hieß es, die Priorisierung von Daten sei für lebenswichtige "E-Health"-Angebote und Notfallmedizin unabdingbar, dann wurden Telemetriedienste für die Automobilistik und der kommende Bandbreitenbedarf von "Industrie 4.0" angeführt. Das ist nichts anderes als der Datenverkehr im kommenden "Internet der Dinge", der nach Willen des Ministerrats die europäischen Telekoms in diesem Wachstumsbereich gegenüber ihren US-Konkurrenten protegieren soll.

Zwei Wochen nach der Verankerung der Netzneutralität in der Gesetzgebung der USA beharrten die großen EU-Mitgliedstaaten darauf, dass den europäischen Telekoms eine kostenpflichtige "Überholspur" mit garantierter Bandbreite für nicht näher definierte "Spezialdienste" zustehen würde. Ein regulatives Auseinanderdriften der Kontinente wurde damit sozusagen programmiert. In den folgenden Trilog-Verhandlungen ging die Demontage der Parlamentsposition dann munter weiter.

Die Finalisierung

Da die Zeit drängte, setzte die Kommission ein Limit für eine Einigung. Aus den geleakten Texten war da schon direkt abzulesen, unter welchem Druck das Parlament nun in diesen Trilog-Geheimverhandlungen stand. Die da erstellte Version zeigte anschaulich, wie sich der Text entlang der Linie des Ministerrats konsolidierte, während das Parlament eine seiner Positionen nach der anderen aufgeben musste.

In der gemeinsamen Strategie von Kommission und Rat spielen Konsumentenschutz, Informationsfreiheit oder die Chancen von europäischen KMUs im Internetbereich keine primäre Rolle. Ausschließliches Ziel war und ist es vielmehr, möglichst viele der neuen Geschäftsfelder, die sich rund um das sogenannte "Internet der Dinge" auftun, den europäischen Telekoms zukommen zu lassen. Hier ist man längst dabei, denn mit der Einführung des europaweiten Notrufsystems E-Call ab 2018 muss in jedem neu zugelassenen Auto ein GSM-Modul verbaut sein, das natürlich eine SIM-Card enthält. Da diese SIMs inzwischen Kleincomputer mit integrierten Abrechnungssystemen sind, ist für die Telekoms ein "Muss-Geschäft" im Bereich Internetservices greifbar nahe, das deutlich lukrativer als das Geschäft mit reinen Internetzugängen ist. Um dieses und nur um dieses Geschäft ging es Telekoms, Rat und Kommission in dieser Regelung.