Erstellt am: 22. 10. 2015 - 19:20 Uhr
Der totale Rausch
Dass Soldaten bei Einsätzen unter Drogen gesetzt werden, ist eine Geschichte, die keine Armee der Welt gerne offiziell erzählt. Das war vor 70 Jahren nicht anders. Als nach dem Ende des Dritten Reichs an dem Mythos gestrickt wurde, die Wehrmacht sei, im Gegensatz zu den Nazi-Organisationen, sauber gewesen, der Krieg anständig geführt worden, wurde nicht nur die Beteiligung deutscher und österreichischer Wehrmachts-Soldaten an Kriegsverbrechen und Vernichtungsaktionen unter den Teppich gekehrt. Auch der Einsatz von aufputschenden und betäubenden Drogen wurde in der offiziellen Geschichtsschreibung so gut wie gar nicht thematisiert.
Breaking Bad
Kiepenheuer & Witsch
Die Breaking Bad-Droge Meth alias Methamphetamin, die derzeit als die Modedroge gilt, war im Dritten Reich noch weit verbreiteter als heute: Meth war Bestandteil von „Panzerschokolade“ für Soldaten, von aufputschenden Pralinen für die Hausfrau, und es wurde in Tablettenform unter dem Namen „Pervitin“ vertrieben, hergestellt von der Firma Temmler und promotet von der besten Werbeagentur Berlins.
Dabei war das Credo der Nationalsozialisten, angeführt vom Nichtraucher, Antialkoholiker und Vegetarier Adolf Hitler, eigentlich die totale Enthaltung gewesen. Mit dem Sündenpfuhl Berlin in der "verjudeten" Weimarer Republik wollte man aufräumen und das deutsche Volk entgiften, die Körper von den Rauschmitteln ebenso wie den "Volkskörper" als Ganzes vom "jüdischen Gift". Abzulesen war diese Denkweise, so erzählt der Autor Norman Ohler, schon an der Terminologie: "Drogen, die vorher vielleicht Genussmittel hießen, hießen dann (und bis heute, Anm.) Rauschgifte."
Norman Ohler hat fünf Jahre lang in Archiven in Deutschland und den USA nach bisher übergangenen Dokumenten zu Drogen- und Pharmazeutika-Konsum in der Nazizeit geforscht und sich in Tagebüchern, Feldpost, offiziellen Dokumenten und den Aufzeichnungen von Hitlers Leibarzt vergraben. In "Der totale Rausch" erzählt er die Geschichte des Dritten Reiches, basierend auf der Interpretation seiner Recherchen.
Die wilden Zwanziger
Ohler beschreibt den Drogenkonsum im wilden Nachtleben im Berlin der Goldenen Zwanziger Jahre als Normalität; Substanzen, die heute als gefährlich galten, wurden damals nicht als potenziell gefährliche Suchtmittel erkannt. Heroin zum Beispiel kam 1896 als Hustensaft und Schmerzmittel der Firma Bayer auf den Markt und wurde auch als Einschlafhilfe für Säuglinge empfohlen. Die Darmstädter Pharmafirma Merck – wie Bayer und Temmler auch heute noch unter den größten Pharmaproduzenten weltweit – hielt das Patent auf Kokain. Beides konnte man ohne große Schwierigkeiten in der Apotheke erwerben. Das Deutsche Reich war damals der weltgrößte Drogenproduzent, 80% des weltweit produzierten Kokains kam aus deutschen Fabriken, und noch im Jahr 1928, ein Jahr bevor Deutschland auf internationalen Druck das internationale Opiumabkommen des Völkerbundes ratifizieren musste, wurden von der chemischen Industrie 200 Tonnen Opium verarbeitet.
Ohlers Buch beschreibt, wie die Nazis damit aufräumen wollten – und doch nur die eine Droge durch eine andere ersetzten. Meth alias Pervitin passte hervorragend zum Leistungsglauben des Nationalsozialismus. "Wenn man an den NS-Slogan Deutschland erwache denkt, dann hat da das Pervitin genau reingepasst", meint Autor Norman Ohler. "Meth nimmt man nicht, weil man dadurch feinsinniger und intelligenter agieren kann, sondern das nimmt man, weil man damit das, was einem erzählt wird, ohne nachzudenken sehr lange durchführen kann. Daher war das für Soldaten die ideale Droge, sie sind dann einfach marschiert ohne aufzuhören."
Joachim Gern
Kein Blitzkrieg ohne Meth
Der deutsche „Blitzkrieg“ am Anfang des Zweiten Weltkriegs wäre, so interpretiert Ohler seine Recherchen, ohne das enthemmende und drei bis vier Tage wach haltende Pervitin gar nicht möglich gewesen. Noch im Jahr 1940 ordert die Wehrmacht in einem Vierteljahr 35 Millionen Tabletten Pervitin. Doch als sich das Kriegsglück wendet, und bei den Soldaten immer mehr Entzugserscheinungen auftreten, gewinnen andere Drogen an Bedeutung: Opiate wie das dem Heroin verwandte, aber deutlich stärkere und aufputschende Eukodal (Merck) und diverse Kokain-Mischdrogen. Auch bei Patient A, so der Codename für Adolf Hitler in den Aufzeichnungen seines Leibarztes Theo Morell.
Aus den Anfangs verabreichten Vitaminspritzen wurde mit der Zeit immer mehr, schreibt Ohler, denn Hitler musste um jeden Preis fit erscheinen. "Doch es ist nicht so, dass es Morells Absicht war, Hitler zum Junkie zu machen, vielmehr hat Hitler Morell benutzt, um sich ständig unter Drogen zu setzen. Da Hitler keine Widerrede duldete und Theo Morell ihm gefallen wollte, hat die Beziehung zwischen den beiden gut funktioniert."
Patient A endet als Drogenwrack
Die Beziehung zwischen den beiden ebenso wie die verabreichten Drogen hat Norman Ohler aus dem Nachlass Morells herausgelesen. "Theo Morell musste alles, was er dem "Führer" verabreichte, akribisch notieren", erzählt er, "um sich, wenn Hitler Schaden zugefügt worden wäre, rechtfertigen zu können. Das zu lesen, war schon sehr spannend. Da trat die Geschichte sehr lebendig vor mein Auge."
Sehr, fast schon zu lebendig tritt die Geschichte auch in Norman Ohlers Buch vor unser Auge. Wenn sich der Autor zum Beispiel in die Gefühlswelt des Gröfaz hineindenkt, geht ihm die Fantasie manchmal ein bisschen zu sehr durch. Zwar werden Norman Ohlers Recherchen auch von bedeutenden Historikern wie Hans Mommsen goutiert. Doch ist sein Erzählstrang so stark, dass die notwendigen Relativierungen etwas in den Hintergrund geraten.
"Der totale Rausch" erzählt die Geschichte des Dritten Reiches als eine Geschichte von Rausch und Entzug. Eine Interpretation unter vielen, aber eine wichtige und spannend erzählte – und eine, die bisher ganz sicher zu wenig Beachtung gefunden hat.