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Christian Fuchs

Twilight Zone: Film- und Musiknotizen aus den eher schummrigen Gebieten des
Pop.

21. 10. 2015 - 11:36

Das Böse hat viele Gesichter

Von „Crimson Peak“ über „Sicario“ bis „Black Mass“: Vor der Viennale noch eine kleine Rückschau auf einige zentrale dunkle Filme der letzten Zeit.

Wenn es meinerseits hier schon seit geraumer Zeit nichts über neue Filmstarts zu lesen gab, dann hatte das einen sehr persönlichen Grund. Fast drei Wochen lang habe ich kein Kino von innen gesehen und auch den Beamer im eigenen kleinen Lichtspieltheater nicht angeworfen. Stattdessen durfte ich, im Rahmen meiner ersten US-Westcoast-Reise ever, mit Freunden gemeinsam unzählige Filme nachstellen, mir selber Filme ausdenken, konnte Filmstars beim Essen zusehen, durch Filmsets spazieren und wurde von Filmfiguren gejagt und verfolgt.

Zum letzteren Punkt folgt an dieser Stelle noch ein ganz ausführlicher Erlebnisbericht. Kam ich in Los Angeles doch in den Genuss der Halloween-Horrornights in den Universal-Studios, ein schwer in Worte fassbares Ereignis für einen Gänsehaut-Liebhaber wie meine Wenigkeit.

Ebendort auf dem Gelände lud der charmante Guillermo del Toro via Videobotschaft auch in einen verkleinerten Nachbau des prachtvollsten Geisterhauses, das man in diesem Jahr besuchen kann. Die Rede ist von Allerdale Hall, dem mysteriösen Gebäude, durch das die Figuren in „Crimson Peak“ taumeln.

Crimson Peak

UPI

"Crimson Peak"

Schwarze Romantik in farbenfreudiger Ausleuchtung

Mit der anhaltenden Welle an austauschbaren Spukhaus-Filmen, in denen moderne Kleinfamilien mit gespenstischen Phänomenen konfrontiert sind, hat dieser Film glücklicherweise nichts zu tun. Guillermo del Toro, der die Literaturgeschichte ebenso auswendig kennt wie die Filmhistorie, verbeugt sich in „Crimson Peak“ vor der Tradition des gothischen Schauermärchens und den dekadenten Themenfeldern der Schwarzen Romantik.

In einem Besetzungscoup, bei dem ich das Gefühl hatte, er wäre einem eigenem schwelgerischen Fiebertraum entsprungen, trifft Mia Wasikowska als amerikanische Jungautorin am Beginn des 20ten Jahrhunderts auf Tom Hiddleston und Jessica Chastain als britische Aristokraten-Geschwister. Gegen den Willen ihres behüterischen Vaters verliebt sich Edit Cushing in den blassen Thomas Sharpe, zieht mit ihm gar nach England, in dessen morbiden Wohnsitz, der auf einem Untergrund von blutrotem Lehm gebaut ist. Die sinistre Schwester Lucille warnt dort vor verschlossenen Kammern und hütet streng den dazugehörigen Schlüsselbund.

Crimson Peak

UPI

"Crimson Peak"

Was sich in Adderdale Hall an Gefühlswallungen und Gänsehautmomenten zwischen den drei Hauptfiguren und übernatürlichen Bewohnern abspielt, folgt akribisch den Konventionen der erwähnten literarischen Traditionen. Das ist einerseits herrlich, wird das schwelgerische Pathos doch nie von zeitgeistiger Ironie gestört. Auf der anderen Seite stellt der Film die Vergangenheit so pingelig nach, dass man auch auf keine Überraschung hoffen darf, außer ein paar erfreulichen Splattereinlagen, die sich Tim Burton nie getraut hätte.

„Crimson Peak“ fügt sich letztlich perfekt ins Gesamtwerk von Guillermo del Toro. Dessen Filme bergen selten ein Geheimnis. Weil die Welten, die der kinobesessene Mexikaner kreiert, immer übervollständig sind, bis zum Bersten mit liebevoll gemeinten Referenzen und Manierismen vollgestopft. Auch die Spannung ist stets nur eine Behauptung, wie übrigens auch die überlebensgroßen Emotionen.

Im Grunde geht es del Toro bloß um das Errichten von Fan-Räumen und Hommagen-Kathedralen. Deshalb möchte man in „Crimson Peak“ aber auch wohnen, delektiert sich an schönen blassen Lieblingsakteuren, geilstem Gothic-Dekor und der tollsten farbenfreudigen Ausleuchtung seit den Glanzzeiten von Dario Argento und Mario Bava. Gefesselt war ich dabei zwar selten, wie vom Duft einer offenen Absinthflasche berauscht aber durchgehend.

Crimson Peak

UPI

"Crimson Peak"

Klischeetriefendes Ganovenkino mit Comic-Bösewicht

Irgendwie hätte auch Johnny Depp in seiner aktuellsten Inkarnation in das Setting von „Crimson Peak“ gepasst. Mit schütterem Silberhaar, leichenhaftem Antlitz und stechenden Kontaktlinsen wirkt der Superstar in seinem neuen Streifen wie ein fahles Nosferatu-Update. Das Problem ist allerdings, dass es sich bei „Black Mass“ um einen Streifen handelt, der dem Realismus verhaftet ist und sogar auf Fakten und Tatsachen basiert.

Regisseur Scott Cooper nähert sich in dem True-Crime-Drama dem grimmigen Leben von Jimmy „Whitey“ Bulger, einem Mann, der jahrelang einen Spitzenplatz in den Charts der gesuchtesten US-Kriminellen belegte. Als Kopf der Winterhill Gang terrorisierte der Sohn irischer Einwanderer in den 70er und 80er Jahren ganze Stadtteile in Boston. Weil aber das FBI den Gangsterboss als Informanten deckte und wohl auch weil sein Bruder als demokratischer Senatspräsident eine schützende Hand über Bulger hielt, konnte dieser sein Schreckensregime frei von polizeilichen Ermittlungen ausdehnen.

Black Mass

Warner

"Black Mass"

Scott Cooper, der mit dem Countryheuler „Crazy Heart“ noch faszinierte, mit dem Sozialdrama „Out Of The Furnace“ aber bereits gemischte Gefühle hinterließ, fällt zu dieser unfassbaren Story nur wenig ein. Stilistisch dicht auf den Spuren von Martin Scorsese, ohne auch nur in einer Szene dessen innovative Kraft zu erreichen, steckt er zweifellos gute Darsteller (Joel Edgerton, Benedict Cumberbatch oder Kevin Bacon) und noch einprägsamere Charaktergesichter in Nebenrollen in ein klischeetriefendes Ganovenkino-Korsett.

Als ob die Aneinanderreihung von einschlägigen Erpressungs- und Gewalt-Szenarios nicht schon abgedroschen genug wäre, sorgt Johnny Depp im Ensemble der ausgesucht fertig aussehenden Männervisagen dann wirklich für Kopfschütteln. Wie aus einem billigen Horrorschocker entlaufen torkelt der Schauspieler, der anscheinend nur mehr hinter dicken Schichten Make-Up vor die Kamera tritt, durch den Film. Sitzt beispielswiese ausgesucht bedrohlich am Esstisch seines FBI-Bündnispartners, verlässt sich auf dämonische Gesten und die Mimik eines Comic-Bösewichts.

Lebten die besten True-Crime-Verfilmungen nicht immer schon von bewusstem Understatement oder einem gruseligem Hauch Menschlichkeit, der in den Augen infernalischer Killer aufblitzte? Versteckt sich nicht sogar der serienkillende Fürst der Finsternis, Hannibal Lecter, in der dazugehörigen großartigen TV-Serie, hinter einer bewusst bürgerlichen Fassade? Johnny Depp setzt als Whitey Bulger jedenfalls auf opernhafte Drastik und Schmierenkomödianz. Mit Wehmut denkt man an Michael Manns gelungenes Stil-Experiment „Public Enemies“ zurück, ein Gangsterepos voller tatsächlicher Brüche und gelungener Irritationen, in dem unser einstiger Liebling Johnny noch von Latex unberührte Haut zeigte.

Black Mass

Warner

"Black Mass"

Kino der physischen und psychischen Erschütterungen

Aber genug geärgert, schließlich wurde ich mit dem Bösen und seinen verschiedenen Gesichtern auch noch in einem ganz anderem Film konfrontiert, den ich nach meiner Rückkehr schleunigst nachholte. Und diesmal saß ich vollends hypnotisiert, mitgerissen und verstört im Kinosessel. Überwältigt von moralischen Grauzonen und schmerzhafter Ambivalenz, aber vor allem auch von der virtuosen Auslotung sämtlicher Möglichkeiten des Kinos.

Ich wusste spätestens nach dem rabenschwarzen Entführungsthriller „Prisoners“ und dem düsteren Verwirrspiel „Enemy“ dass sich der Kanadier Denis Villeneuve als ein zentraler Grenzgänger zwischen Hollywood und dem künstlerisch ambitionierten Kino etablieren würde. Ein Interview meinerseits mit dem aus dem Arthouse-Sektor kommenden Kanadier verstärkte diesen Eindruck noch. Mit der enormen Sogkraft von „Sicario“ hatte ich dennoch nicht gerechnet.

Sicario

Constantin Film

"Sicario"

Vielleicht sollte ich als erstes die unvergleichlichen, extrem atmosphärischen wie klaren Bildkompositionen von Roger Deakins erwähnen. Der Ausnahmekameramann, der auch hinter den meisten Filmen der Coen Brüder steht, arbeitet seit „Prisoners“ mit Denis Villeneuve zusammen. Gleich in der Eingangssequenz, die ein FBI-Team bei der Razzia in einem Kidnapper-Unterschlupf zeigt, sind wir mehr als hautnah mitten im Geschehen dabei. Der grollende Industrial-Score des Isländers Jóhann Jóhannsson verstärkt den Zustand der Beklemmung.

Es geht alles Erdenkliche schief bei der Aktion, nur durch viel Glück überlebt die junge FBI-Agentin Kate (Emily Blunt) das Chaos. Bald danach klopft ein sich locker gebender, aber umso undurchsichtiger Ermittler (Josh Brolin kaugummikauend in Flip-Flops) bei ihr an, will sie für ein geheimes Sonderkommando anheuern. Schon bald überquert Kate zusammen mit ihrem neuen Befehlshaber, einer kleinen Eliteeinheit und einem wortkargen Söldner (Benicio Del Toro) die Grenze nach Mexiko. Das Ziel: Auf keineswegs legale Weise das hochrangige Mitglied eines Drogenkartells festzunehmen. Oder eben zu exekutieren.

Sicario

Constantin Film

"Sicario"

Extrem heftig, aber ohne sich einen Moment an der Gewalt genüsslich zu weiden, kommt dieser Film daher. Ideologisch komplex, aber ohne das Zuschauer-Herzklopfen zu vergessen. Durchaus aufklärerisch, aber ohne eine Sekunde zu ignorieren, dass das Geschehen im archaischen „Land der Wölfe“ spielt, wie es Del Toros zwiespältiger Charakter formuliert.

„Sicario“ taucht in ein grausames Terrain ein, ein Schlachthaus der verschiedensten politischen und/oder monetären Interessen, in dem Menschenleben nichts wert sind. Denis Villeneuves Thriller plädiert auch unter diesen Ausnahmebedingungen für Humanismus, erweist sich vor allem aber als Manifest für ein Kino der physischen Erschütterungen abseits infantiler Effekthascherei. Was für ein packender, präzise inszenierter Kommentar zum Krieg in den mexikanischen Städten, was für ein möglicher Film des Jahres.

Sicario

Constantin Film

"Sicario"