Erstellt am: 20. 10. 2015 - 15:45 Uhr
CocoRosie
Im Glasturm in der Nebelstadt sitzen zwei Schwestern. Die eine heißt Bianca, die andere Sierra. Zusammen sind sie CocoRosie. Als Duo haben sie vor über 10 Jahren in den USA eine Musikrichtung mitbegründet, die man heute im Index der Rock- und Popgeschichte unter F wie „Freak Folk“ oder N wie „New Weird America“ nachschlagen kann. Der damalige Ansatz lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten aufdröseln: Flucht in die Introspektion als Resultat von 9/11 und der dunklen Bush-Jahre, kindischer Neo-Primitivismus als Resultat der Digitalisierung der menschlichen Erfahrungen, oder das Experimentieren mit Crossdressing, Gender und Queerness als Popavantgarde, die mittlerweile längst im Mainstream angekommen ist.
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Nach Ausflügen zuletzt ins Elektronische und den satten Sound im Allgemeinen sind Bianca und Sierra zurück auf den Bauernhof in Südfrankreich gekehrt, wo sie seinerzeit ihr reichlich beklatschtes Lo-Fi-Debüt „La Maison de mon Reve“ komponiert hatten. Warum das neue und bereits sechste CocoRosie-Album „Heartache City“ trotz Eigendefinition als „romantic nostalgic“ keine Hommage an das eigene Werk geworden ist, haben wir mit den beiden Schwestern im Glasturm in der Nebelstadt auseinandergesetzt:
Christian Lehner: Ihr seid gerade von einer Südamerika-Tour zurückgekommen. Iron Maiden sind dort die größte Band überhaupt. Wie sind eure Erfahrungen? Ihr habt zum Beispiel erstmals in Peru gespielt.
Sierra: Die Fans sind unglaublich. Manche haben erzählt, dass sie 10 Jahre auf ein Konzert gewartet haben. Da wird man dann doch etwas emotional.
Bianca: Ein Ehepaar hatte eine 18-stündige Busfahrt hinter sich. Die beiden haben ihre Kinder mitgenommen, weil die ebenfalls Fans sind. Sie brachten Geschenke. Das war schon sehr sweet.
Auch mein kleiner Sohn fängt zu tanzen an, wenn eure Musik läuft. Ich glaube, das ist relativ gut nachvollziehbar.
Bianca: Dabei haben wir nie ein Zielpublikum vor Augen. Wir sind überrascht, dass so viele Menschen unsere Musik mögen. Aber klar, wenn man Kinderspielzeug einsetzt und seltsame Geräusche produziert, hat man wohl eher Chancen bei den Kids.
Ihr habt „Heartache City“ wieder in Südfrankreich in diesem Bauernhof geschrieben und teilweise auch aufgenommen – so wie das Debüt „La Maison de mon Reve“.
Sierra: Früher haben wir diesen Bauernhof oft gemietet. Der Stall ist das Studio. Wir hatten gar nicht vor, ein Vintage-Album aufzunehmen, doch dann fanden wir die alten Koffer mit dem Spielzeug und den Instrumenten von den ersten Aufnahmessions. Es waren auch einige Gedichte und Songtexte in den Koffern. Für uns war das wie ein Auftrag: Macht was draus!
Bianca: Der Strom kam vom Nachbarhaus. Alles war chaotisch und nur bedingt einsatzbereit. Doch genau das war es, was wir brauchten. Es gab keinen Druck von Außen, keine festgesetzten Studiozeiten, nur die Koffer und uns zwei. Wir räumten alles auf und nach und nach tauchte der alte Stuff auf. Manchmal trällerte ein altes Spielzeug los oder es sprang eine Feder raus.
Gab es ein Instrument, über das ihr euch besonders gefreut habt, dass es noch funktioniert?
Sierra: Vielmehr, dass es noch immer NICHT funktioniert! Da ist dieses Celesta-Piano, das ich bei einem uralten Antiquitätenhändler in Paris erstanden hatte. Er beharrte darauf, dass es nicht mehr spielbar sei und dass man es deshalb wie ein Museumsstück behandeln müsse. Dank der Staubschicht, die sich angesammelt hatte, klingt es jetzt noch viel bedrückender als vor ein paar Jahren. Das Ding ächzt vor sich hin und erzeugt diese herzzerreißenden Klänge. Nimm das in Kombination mit den Geräuschen des Stalls, dem Wind und den Eulen, und du hast die Sound-Basis vom neuen Album.
Ihr selbst habt den Grundton des Albums als „romantic nostalgic“ bezeichnet. Habt ihr in diesem vertrauten Setting die Geister des Debüts heraufbeschworen?
Bianca: Für unsere Musik kreieren wir fast immer Fantasiewelten. Auf unserem Debüt waren zum Beispiel Songs, die ich als haitianische Liebeslieder bezeichnen würde. Wir haben vieles davon in Paris aufgenommen, dennoch war es eine sehr amerikanische Platte, die von der Anmutung her eher an den alten Süden erinnerte. Das heißt, thematisch funktioniert unsere Musik unabhängig von dem Ort und der Zeit, in der sie entsteht. Obwohl wir sehr wohl immer wieder zurückblicken, vor allem auf die eigene Kindheit oder die Familie, würden wir in Bezug auf die Band nie ein „back to the roots“-Album machen. Das Album klingt halt ähnlich, weil wir es im selben Studio mit den selben Instrumenten eingespielt haben.
Aber das Wegbewegen vom Stil der letzten Alben ist ja doch eine bewusste künstlerischen Entscheidung.
Bianca: Die Tatsache, dass wir nur zu zweit an diesem Ort waren und bloß einen Vierspurrekorder zur Verfügung hatten, war entscheidender als jeder künstlerische Vorsatz. Man kommt dort hin, verspürt Lust, etwas zu machen und macht es dann einfach.
Wie ist das konkret abgelaufen?
Bianca: Wir haben die Koffer geöffnet. Sierra hat sich die Instrumente geschnappt und einige Dinge ausprobiert und ich hacke parallel dazu auf meiner alten Schreibmaschine rum. Der Fokus liegt dabei auf der Poesie und den Geschichten. Wir versuchen ihnen dann etwas zu zimmern, das sie trägt.
Was ist die Geschichte bei „Heartache City“?
Sierra: Uns schwebte eine etwas heruntergekommene Kleinstadt am Rande eines Highways vor. Sie könnte im Nirgendwo des Südwestens liegen, aber auch in Südfrankreich. Die Landschaft ist karg, nichts ist los, das Leben ist einsam. Es ist ein Ort, wo man sterben oder neu geboren werden kann.
Bianca Casady gastiert am 19. November mit ihrem Soloprojekt Bianca Casady & the C.I.A. im Brut in Wien. "Heartache City" ist digital bereits im September erschienen und ab jetzt auch auf CD und Vinyl erhältlich.
Das gilt dann wohl auch für die „Lost Girls“? Von der Anmutung her klingt das wie die Vertonung von Ginsbergs „Howl“ für verlorene junge Frauen. Ein Neubeginn?
Bianca: Es fällt mir sehr schwer, irgendwelche Interpretationen zu kommentieren. Am liebsten würde ich einen Schutzmantel um jede Empfindungen und jeden Gedanken legen, den unsere Stücke anregen. Das sind Schätze, die man nicht plündern sollte. Deshalb rede ich ungern über unsere Songs. Es ist doch viel interessanter, ob die Stücke auch jenseits ihrer Unmittelbarkeit wirken.
Das Video zum Song ist diesbezüglich ziemlich eindeutig. Man sieht verzweifelte Mädchen, die versuchen, auszubrechen, zu türmen, vielleicht eine neue Identität zu finden. Man sieht unter den 30 gecasteten Argentinierinnen zwei verdammt bekannte Gesichter ... Eure Sympathie für diese Mädchen und die Identifizierung mit ihrem Schicksal ist nur schwer von der der Hand zu weisen.
Bianca: Frausein bedeutet auch heute noch größeren Gefahren ausgesetzt zu sein. Die Geschichten dieser Mädchen im Clip sind Alltagserfahrungen, nicht die Ausnahme davon. So sehe ich das Video.
Die wesentlichen Elemente, die Toys, die Wunderwelten, das alles ist noch da bei CocoRosie, aber ihr seid doch ernsthafter geworden. Der Feminismus war zwar immer schon präsent, aber noch nie so ausgesprochen. Du engagierst dich ja in vielen Bereichen, wie etwa in dem feministischen Kunstmagazin „Girls Against God“.
Bianca: Das stimmt, wenn man allein den Begriff des Feminismus betrachtet. Es hat eine Weile gedauert, bis er in unser Vokabular gefunden hat. Wir haben das, was sich aus unserem Schaffen immer schon erklärt hat, sozusagen in die reale Welt geholt. Deshalb auch das Engagement bei GAG und anderen Projekten.
Es ist gar nicht so leicht über Feminismus und Pop zu sprechen, weil man sehr schnell dabei landet, Frauen gegen Frauen auszuspielen. Formulieren wir das also vielleicht allgemeiner: die Queerness, das Crossdressing, der Feminismus, all die Dinge, die bei euch bereits zu Beginn angelegt waren, sind mittlerweile im Herzen des Mainstreams und der Popcharts angekommen. Wie denkt ihr darüber?
Bianca: Tatsächlich werde ich manchmal zu Beyoncé oder Miley Cyrus gefragt, aber ich kann dazu wenig sagen, weil wir sehr fixiert auf uns selbst sind und nur wenig mitbekommen, was gerade im Mainstream angesagt ist oder nicht. Ich persönlich merke, dass man als Frau mehr Respekt bekommt als noch vor ein paar Jahren. Die Gesellschaft macht sich Gedanken über den konditionierten Sexismus in der Sprache, über die Identifizierung von Gott als Mann und so weiter. Und ja, man merkt schon auch, dass da etwas im Pop passiert, auch wenn wir noch weit von einer Gleichstellung entfernt sind. Für unsere Kunst bedeutet der explizitere Feminismus, dass wir selbst verstärkt in die Rolle der Frau schlüpfen. Das ist eine nicht uninteressante Erfahrung.
Sierra: Wir bemerken auch, dass man uns als Künstlerinnen ernster nimmt und nicht mehr so sehr als kindische Wirrköpfe betrachtet. Ich glaube, auch das hat mit der Aufwertung der Frau im Allgemeinen zu tun.
Christian Lehner
Ihr habt eine ziemlich einzigartige Ästhetik geschaffen. Gibt es einen Codex-CocoRosie, den ihr befolgt?
Bianca: Es gibt keine festen Regeln, aber sehr wohl ästhetische Bedingungen, die unserem Schaffen entgegenkommen oder auch nicht. Wenn wir arbeiten, mögen wir zum Beispiel keine modernen Gegenstände in unserer Umgebung. Diese würden uns nur an die Gegenwart erinnern und an den Ort, an dem wir uns gerade befinden. So Sachen wie Labels auf Plastikwasserflaschen oder das Apple-Logo auf einem Laptop gehen gar nicht. Klar verwenden wir auch Computer im Alltag oder beim Schneiden eines Clips. Aber wenn es um das unmittelbare Schreiben und Musizieren geht, ziehen wir uns so weit wie möglich zurück. An den Dingen der Gegenwart kleben so viele Referenzen und Gedankenprozesse, das lenkt nur ab von der Fantasie.