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Katharina Seidler

Raschelnde Buchseiten und ratternde Beats, von Glitzerkugeln und Laserlichtern: Geschichten aus der Discommunity.

16. 10. 2015 - 16:58

Die Summe der einzelnen Teile

Kraut, Rüben-EDM und allerlei andere Extravaganzen auf dem neuen Kollaborations-Album des Synthesizer-Pioniers Jean-Michel Jarre.

Er hat zum Milleniums-Wechsel die Pyramiden von Gizeh beschallt, in London auf einer schwimmenden Bühne im strömenden Regen vor knapp 300.000 Menschen performt und die Skyline der Stadt Houston mit einer Licht- und Lasershow für über eine Million Leute bespielt. Davor und währenddessen hat er die Synthesizer-Musik der Siebziger Jahre entscheidend mitgestaltet und in seiner vierzigjährigen Karriere siebzehn Studio-Alben und etwa halb so viele Live-Platten veröffentlicht. Heute bringt Jean-Michel Jarre sein neuestes Werk auf den Markt.

Jean-Michel Jarre Time Machine Cover

Columbia Records / Sony Music Entertainment

Es trägt den Titel "Electronica 1: The Time Machine" und ist in Kollaboration mit fünfzehn der renommiertesten Künstlerinnen und Künstler entstanden, die die elektronische Musikwelt hergibt. Laurie Anderson, John Carpenter und Vince Clarke geben sich mit jüngeren ElektronikerInnen wie Boys Noize, Little Boots oder den Fuck Buttons die Klinke in die Hand.

Während Jarre auf dem Gebiet zwischen Synthesizer-geschwängertem Psychedelik und Ambient unbestritten eine Pionierrolle einnimmt, will sich im Lauf von "Electronica 1" nicht erschließen, wieso er in einer Art Absolutheitsanspruch nun an aktuelle, oder einfach: seiner Musik diametral entgegengesetzte Stile andocken will und damit zwanghaft zusammenpfercht, was nicht zusammenkommen müsste. Der niederländische Megastar-DJ Armin van Buuren zum Beispiel ist als Vertreter der globalen EDM-Raveszene eingeladen, Pete Townshend von The Who rockt sich durch "Travelator, Pt.2", einen Fusion-Track, der bis zum Ende kaum durchzuhalten ist.

Electronica 1: The Time Machine:

  • 01 The Time Machine (ft. Boys Noize)
  • 02 Glory (ft. M83)
  • 03 Close Your Eyes (ft. Air)
  • 04 Automatic (part 1) (ft. Vince Clarke)
  • 05 Automatic (part 2) (ft. Vince Clarke)
  • 06 If..! (ft. Little Boots)
  • 07 Immortals (ft. Fuck Buttons)
  • 08 Suns Have Gone (ft. Moby)
  • 09 Conquistador (ft. Gesaffelstein)
  • 10 Travelator (part 2) (ft. Pete Townshend)
  • 11 Zero Gravity (ft. Tangerine Dream)
  • 12 Rely on Me (ft. Laurie Anderson)
  • 13 Stardust (ft. Armin van Buuren)
  • 14 Watching You (ft. Massive Attack’s 3D)
  • 15 A Question of Blood (ft. John Carpenter)
  • 16 The Train & the River (ft. Lang Lang)

Jeder Track auf "Electronica 1" klingt exakt nach der Summe der Teile der beiden beteiligten Künstler, aber nur in den seltensten Fällen nach mehr. Das Ätherische von Jean-Michel Jarres Synthesizern scheint in allen Songs durch, während die anderen Acts ihren Senf nach bestem Wissen und Gewissen dazugeben. Das funktioniert umso besser, je ähnlicher sich die musikalischen Vorlieben der beiden Parteien sind.

So ist "Zero Gravity", das Jean-Michel Jarre mit Tangerine Dream-Mitbegründer Edgar Froese kurz vor dessen Tod aufgenommen hat, eine stimmige Kraut-Spirale, weil beide Künstler einen ähnlichen Background haben. Auch die bohrenden Noise-Eispickel der Fuck Buttons lassen sich mit minutenlangen Arpeggios zu einem mehr oder weniger zeitlosen Kreisel verdichten, während die sanften Vocoderstimmen von AIR "Close your eyes" in ein außerweltliches Schlaflied für Astronauten verwandeln. "Suns have gone", die mit Abstand beste Nummer auf "Electronica 1", macht Moby zu einer herzzerreißenden Sehnsuchtshymne.

Für alles Übrige bleibt die Hoffnung, dass der nächste Frühling Linderung bringt. Dann folgt nämlich der zweite Teil von Jean-Michel Jarres Zeitmaschinen-Exkursion.