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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

12. 10. 2015 - 16:17

Was haben die Refugees eigentlich mit uns zu tun?

Jenny Erpenbeck schickt in ihrem Roman "Gehen, ging, gegangen" einen pensionierten Professor auf Erkundung.

Groß ist die Hilfe der Zivilgesellschaft für Refugees hierzulande. Deutlich weniger Solidarität in der Bevölkerung gäbe es jedoch für die politischen Forderungen der Refugee-Bewegung, stellte die amerikanische Bürgerrechtlerin Angela Davis bei ihrem Besuch vergangene Woche in Wien fest.

Um auf ihre Lage aufmerksam zu machen, haben Flüchtlinge 2013 in Berlin am Oranienplatz ein Protest-Camp errichtet. Ihre Forderung war: neue Asylgesetze müssen geschaffen werden. Fast ein Jahr lebten Flüchtlinge am Oranienplatz in provisorischen Zeltunterkünften.

Das Cover des Romans "Gehen, ging, gegangen" trägt eine Zeichnung einer Art abstrakten Teppichs

Albrecht Knaus Verlag

"Gehen, ging, gegangen" von Jenny Erpenbeck ist 2015 bei Knaus erschienen. Eine Leseprobe findet sich hier.

Genau diesen Protest nimmt die deutsche Schriftstellerin Jenny Erpenbeck als Ausgangspunkt für ihren neuen Roman. „Gehen, ging, gegangen“ heißt das Buch, das die jährlich wechselnde Jury des Deutschen Buchpreises beeindruckt hat und auf der Shortlist für den Preis steht.

Die Grenzen des Humanismus

Tatsächlich ist "Gehen, ging, gegangen" ein äußerst lohnenswertes Buch. Jenny Erpenbeck hat ausführlich für diese Geschichte recherchiert und mit der klugen Wahl eines emeritierten Universitätsprofessors für Philosophie als Hauptfigur gelingt es ihr, die großen Fragen unserer Gegenwart ebenso zu stellen wie sie die praktischen Fragen des Alltags der Flüchtlinge beantwortet.

Denn diesem pensionierten Professor mit seinem humanistischen Weltbild und belesenem, europäischen Kulturwissen ist zu allererst einmal fad. Die Frau ist verstorben, die Geliebte hat ihn verlassen. Geboren in den letzten Monaten des Zweiten Weltkrieges und aufgewachsen in der DDR, ist dieser Richard mit politischem Wandel vertraut. Materieller Besitz indes ist nach wie vor nichts Selbstverständliches. Als er vom Protestcamp der Refugees erfährt, stößt er auf eigene Bildungslücken. Daraufhin nähert sich dieser Richard den Männern aus Afrika über seine zeitlebens gewohnte Herangehensweise an die Welt: er liest sich erst einmal ein. Die Biografie der Hauptfigur verwebt Jenny Erpenbeck hervorragend mit der Wissbegierde um aktuelles politisches Geschehen.


Die Protestbewegung der Refugees am Oranienplatz in Berlin dokumentiert der Film "Insel 36" von Aslı Özarslan.

"Die Sympathisanten sind jung und blass, sie färben sich die Haare mit Henna, sie glauben nicht an eine heile Welt, sondern wollen, dass alles anders wird und stecken sich deshalb Ringe durch Lippen, Ohren oder die Nase. Die Flüchtlinge wiederum wollen in das, was in ihren Augen überzeugend genug wie eine heile Welt ausieht, erst einmal hinein. Hier auf dem Platz überkreuzen sich die zwei Arten des Wünschens und Hoffens, es gibt eine Schnittmenge, aber der stille Beobachter zweifelt daran, dass sie sehr groß ist."

Beim Lesen amüsiert es kurz, als der emeritierte Professor sich gerade mal in die deutsche Kolonialgeschichte an der Südwestküste Afrikas eingearbeitet hat, während das Protestcamp am Oranienplatz geräumt wird. Aber er hat einen Plan gefasst und einen Fragenkatalog erstellt. In einem vormaligen Altersheim, das jetzt Flüchtlinge beherbergt, trifft Richard schließlich auf Männer, die ihm seine Fragen beantworten und ihre Geschichten erzählen.

„In Interviews mit ihnen taucht er immer tiefer ein in das, was unter der Oberfläche verborgen bleibt: die bürokratische Unmenschlichkeit, das schreckliche Warten. Jenny Erpenbeck macht so die Stimmen der Anderen hörbar“, schreibt die Jury der Akademie Deutscher Buchpreis über den Roman „Gehen, ging, gegangen“.

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Sehr viel Wissen und Fakten packt Jenny Erpenbeck in ihr Buch, vieles davon ist einem neu. Etwa, wie unterschiedlich die Länder der Europäischen Union Asylwesen regeln und umsetzen. Und auch wenn man sich am Ende des Romans noch immer nicht die Hauptstadt von Sierra Leone gemerkt hat, so ist man gewiss klüger und hat einen ganz anderen Berlin-Roman gelesen. Da dekliniert jemand Freiheit, Recht und Gerechtigkeit ohne Pathos und in sprachlich klarer Erzählung. Empfehlung!