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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

9. 10. 2015 - 15:58

Das Arrangement

Clemens Setz lässt in seinem verstörenden Roman "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwinden und schafft Ungetüme in mehrfacher Hinsicht.

"Die Stunde zwischen Frau und Gitarre"

Suhrkamp Verlag

"Es ist wirklich ein besonderes Arrangement, das da zustande gekommen ist, sagte Astrid. Du wirst schon sehen." Mit diesen Worten wird Natalie Reinegger, die Protagonisten in Clemens Setz' 1000-seitigem Roman-Monster von ihrer Chefin in ihren Job eingeführt. Natalie hat gerade ihre Ausbildung zur Behindertenbetreuerin abgeschlossen und tritt in der Villa Koselbruch, einem privaten Wohnheim in Graz, ihre erste Stelle an.

Natalie wurde als Bezugsbetreuerin für einen bestimmten Klienten ausgewählt: Alexander Dorm, ein etwa 30 Jahre alter Mann im Rollstuhl mit Lernstörung, der aus der geschlossenen Abteilung der Psychatrie ins Wohnheim gekommen ist.

Ihn soll Natalie bei bestimmten obsessiven Handlungen unterstützen, beim Basteln von Geschenken und Schreiben von Briefen an einen einzigen Menschen, Dr. Christopher Hollberg. Dieser Dr. Hollberg ist auch der einzige, der Alexander Dorm regelmäßig im Heim besucht, als Teil eines besonderen "Arrangements", das in einem Graubereich stattfindet, den zu erklären ihre Chefin und die Kolleginnen sich schon zu Beginn schwer tun und es mit einer speziellen Art von Verhältnis zu erklären versuchen, das nicht auf Gegenseitigkeit beruhe.

Ein Stalker und sein Opfer

Alle Details des Arrangements sollte Natalie nie erfahren, aber die spezielle Beziehung zwischen Dorm und Dr. Hollberg wird in den nächsten Kapiteln des Romans klarer: Dorm war Stalker, Herr Hollberg sein Opfer. Jahrelang hat Dorm Hollberg Briefe geschrieben, ihm aufgelauert und schließlich dessen Frau in den Selbstmord getrieben. Dorm ist dafür verurteilt worden, aber seitdem er aus der Geschlossenen heraus ist, hat er das Briefeschreiben wieder aufgenommen. Und dann kommt das schwer Fassbare. Das Stalking-Opfer reagiert und wünscht ein Treffen. Seither besucht Dr. Hollberg Dorm im Wohnheim, einmal die Woche. Dorm, der ehemalige Stalker, ist darüber natürlich überglücklich, Natalie hingegen verwirrt. Hat der Stalker am Ende also gewonnen?

Doch schon bald beschleichen Natalie Zweifel. Hollberg scheint sich nur oberflächlich mit seinem Stalker versöhnt zu haben und irgendwie scheint er das wahre Ungetüm zu sein. Bei den Treffen quält und erniedrigt Hollberg Dorm, er lässt ihn aus seiner Hand essen, verhöhnt ihn in Anspielung auf den querschnittgelähmten Christopher Reeve als Superman, lässt ihn seine Abneigung spüren und macht ihn absichtlich eifersüchtig. Natalie merkt, dass sie in dieses Spiel hineingezogen wird bzw. sich hineinziehen lässt.

Mäander

Clemens Setz

Paul Schirnhofer

Clemens Setz

Clemens Setz bastelt eine unheimliche Geschichte rund um das Thema Stalking, in der er die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschwimmen lässt und seine LeserInnen immer tiefer in Verschwörungs- und Rachefantasien hineinzieht, doch die Geschichte macht nur einen Teil des Romans aus. Ginge es in "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" nur um die Handlung, könnte man den Roman gut um die Hälfte kürzen, aber der Roman ist so viel mehr: Es sind Beobachtungen, Ausschweifungen, Sprachspiele. Allein der Charakter, die Ticks und die Vorlieben der Protagonistin füllen dutzende Seiten: Natalie, die als Kind unter epileptischen Anfällen litt, die sie aber seit einigen Jahren unter Kontrolle hat, die in einer Sekte war und sich daraus befreit hat, die Live-Übertragungen im Fernsehen und Stephen King-Romane über alles schätzt, nachts an Radwegen "streunen" geht und Blow-Jobs-verteilt oder sich mit Nonseq-Gesprächen, Gesprächen, wo das eine nicht auf das andere folgt, beruhigt.

Clemens Setz lässt seinen Roman gewaltig mäandern. Im Gegensatz zu "Indigo", seinem letzten Roman, ist "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" weder kafkaesk, noch fragmentarisch und achronologisch erzählt. Setz bleibt diesmal bei der Abfolge der Ereignisse und der Perspektive Natalies, er lässt noch viel mehr witzige Szenen und Formulierungen einfließen, weniger verstörend als sein Vorgänger ist der neue Roman deshalb nicht. Ganz im Gegenteil.

Ein literarisches Experiment

Erst auf den letzten 150 Seiten kommt in den Roman richtig Bewegung rein, wenn Setz zum Schlussspurt ansetzt und auf das actionreiche Finale zusteuert. Bis dahin werden einige LeserInnen das Buch wohl schon zur Seite gelegt haben, angeekelt oder überfordert. Dass es soweit nicht kommt, dafür soll ein Projekt sorgen, das den Roman begleitet "Social Reading". Auf der eigens angelegten Website frau-und-gitarre.de wird bis Weihnachten 2015 ein "Experiment im Betreuten Lesen" geführt. An die 40 Leute aus dem Literatur- und Feuilletonbetrieb, von Ijoma Mangold über Ronja von Rönne zu Sascha Lobo werden sich dort ausschließlich mit Clemens Setz‘ neuem Roman befassen, in einer Reihe von Artikeln, die sich direkt am Buch entlanghangeln.

Dort wie auch anderswo schwärmen die KritikerInnen von der hohen literarischen Qualität des Romans. Den Deutschen Buchpreis, für den Setz nach 2009 und 2012 abermals in Betracht gezogen wurde, hat er zwar wieder nicht gewonnen, aber gerade letzte Woche wurde ihm der renommierte und hochdotierte Wilhelm Raabe Literaturpreis zugesprochen, der ein Werk auszeichnet, das einen besonderen Stellenwert in der literarischen Entwicklung des Autors markiert. Man kann gespannt sein, wie diese Entwicklung eines jetzt schon großen Autors weitergeht.