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9. 10. 2015 - 15:31

Zwei-Klassen-System für Flüchtlinge auf Lesbos

Eilregistrierung für syrische Refugees auf der einen Seite - Desinformation und Chaos auf der anderen. Das wahre Gesicht des Erstaufnahmezentrums Moria auf Lesbos sahen Werner Faymann und Alexis Tsipras nicht.

Von Salinia Stroux

JedeR 5. Flüchtling kommt über Lesbos

Über 400.000 Flüchtlinge sind dieses Jahr schon in Griechenland angekommen und machen das von der Wirtschaftskrise geschüttelte Land 2015 zum Hauptankunftsort von Refugees an den Außengrenzen der EU.

Bis zum 23. August kamen laut Angaben der Küstenwache allein auf Lesbos 180.000 Personen an, das ist fast dreimal soviel, wie die Einwohnerzahl der Insel. Derzeit sind es etwa 5,000-6,000 Flüchtlinge am Tag. Jeder fünfte Flüchtling, der die EU erreicht, kommt nach Angaben von Frontex über Lesbos.

Am 6. Oktober besuchte Bundeskanzler Werner Faymann gemeinsam mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras die Insel Lesbos. Die beiden Politiker waren unterwegs in einer fact-finding mission zum geplanten Aufbau eines Registrierungszentrums - einem der sogenannten "Hot Spots" für Flüchtlinge. Dort werden in Zukunft Asylsuchende ausgewählt, die auf andere europäische Länder verteilt werden sollen. Österreich will 100 Beamte zur Verfügung stellen, die bei der Kontrolle in den fünf griechische Flüchtlings-Hotspots in der Ost-Ägäis helfen sollen.

Diese Flüchtlingszentren sollen nach offiziellen Angaben schon im November fertig gestellt werden. Menschenrechtsorganisationen wie PRO ASYL kritisieren die Pläne der EU scharf, zumal es noch lange keinen Konsens für die geplante Quotenregelung gibt. Wie lange die Menschen dann in den Lagern bleiben müssen, ist nicht abzusehen.

Mitte September wird zum ersten Mal das Schubhaftlager nur noch zur Registrierung benutzt.

Salinia Stroux

Geplant ist, nur Schutzsuchende mit guten Aussichten auf Asylstatus weiter zu verteilen, während "Flüchtlinge ohne Bleiberechtsperspektive" sofort abgeschoben werden sollen. Der Fokus der EU bleibt damit weiter auf Abschottung, sagt PRO ASYL.

Moria als Prototyp der Hot Spots

Das Erstaufnahmelager Moria auf Lesbos könnte zu einem Prototyp der so genannten "Hot Spots" werden. Doch bislang ist Moria von menschenwürdigen Bedingungen weit entfernt: Mangelhafte Versorgung, Kälte und Gewalt machen jeglichen Aufenthalt in dem Lager zu einem Überlebenskampf - und die Zahl der Neuankommenden auf dem Gelände steigt.

Innerhalb der Umzäunung Morias aber ausserhalb der geschlossenen Trakte bauten sich im August schon Flüchtlinge provisorische Zelte.

Salinia Stroux

Menschen campen vor dem Lager Moria, auf der Tafel steht, es wurde zu 75% von der EU cofinanziert.

Im nahe gelegenen Zeltlager Kara Tepe läuft die Registrierung syrischer Flüchtlinge seit Mitte September hingegen reibungslos In maximal zwei bis drei Stunden werden die neu Ankommenden mit Dokumenten ausgestattet und können weiterreisen. Etliche Menschenrechtsorganisationen stellen Mitarbeiter und Ressourcen bereit und helfen den Flüchtlingen dort mit Informationen, Ratschlägen, ärztlicher Versorgung oder Trinkwasser.

Nicht so in Moria. Dort ändert sich jeden Tag die Verfahrensweise. Hier sind hauptsächlich Refugees aus Afghanistan und dem Irak zu finden, aber auch aus Eritrea und Somalien sowie Menschen aus anderen Konfliktgebieten der Welt. Es fehlt an Personal, um die hunderten Menschen zu informieren und zu organisieren.

Ein junger Afghane hält seine kranke Frau im Arm. Er hat nichts anderes als eine Mülltüte um sie zu wärmen.

Salinia Stroux

In Moria: Ein junger Afghane hält seine kranke Frau im Arm. Er wärmt sie mit einem Müllsack.

Nachvollziehbar ist diese Ungelichbehandlung für die Refugees in Moria nicht. Auch sie kommen aus Ländern, in denen schon seit vielen Jahren Krieg herrscht. Niemand versteht, warum in Moria nicht das gleiche System wie in Kara Tepe angewendet wird. Schließlich sind die Zahlen syrischer Flüchtlinge sogar höher als die der übrigen Nationalitäten gemeinsam und dennoch bekommen sie schneller ihre Papiere.

Ungenutze Container und Zeltstadt

Das Lager Moria wurde 2013 mit einem Erstaufnahmezentrum und einem Schubhaftzentrum geplant. Stacheldrahtzaun umringt das ehemalige Militärgelände wenige Kilometer von der Inselhauptstadt Mytilini entfernt.

Betritt man das Lager, so finden sich auf einem ebenfalls umzäunten Areal dutzende Container. Im September 2015 eröffnete dieser Teil offiziell als Erstaufnahmezentrum, blieb jedoch bis auf wenige unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die dort auf einen Platz in einer Einrichtung warten, bis heute weitgehend ungenutzt, während auf der Auffahrt neben dem Trakt hunderte Flüchtlinge im Staub schlafen.

Das "Erstaufnahmelager" steht nahezu lehr. Davor liegen hunderte Menschen im Staub ohne Schutz vor der Kälte.

Salinia Stroux

Das "Erstaufnahmelager" steht nahezu leer. Davor liegen hunderte Menschen im Staub ohne Schutz vor der Kälte.

Weiter drinnen im Gelände gelangt man in ein provisorisches Zeltlager, direkt neben den übrigen ebenfalls umzäunten Trakten des Schubhaftlagers, die zur Zeit der Registrierung dienen. Dutzende Zelte des UNHCR und anderer Organisationen beherbergen hier seit Monaten die ankommenden Flüchtlinge provisorisch. Schon im August und September reichten die Zelte bei weitem nicht aus und etliche Flüchtlinge hausten unter Plastiknetzen, die eigentlich bei der Olivenernte benutzt werden. Sie hatten sie von den angrenzenden Feldern herbeigeschafft. Obwohl das Oktoberwetter immer kälter wird, schlafen auch heute hunderte Flüchtlinge ohne Schutz draußen.

Aufgrund des Platzmangels hausen selbst in den Olivenhainen außerhalb der Umzäunung des Geländes Flüchtlinge in provisorischen Zelten.

Salinia Stroux

Aufgrund des Platzmangels hausen selbst in den Olivenhainen außerhalb der Umzäunung des Geländes Flüchtlinge in provisorischen Zelten.

In den Containern des Schubhaftzentrums werden seit 18. September keine Flüchtlinge mehr untergebracht. Denn der griechische Rechnungshof beschloss, dass die Lebensmittelausgabe ausgeschrieben werden muss. Trotzdem warteten Flüchtlinge in den letzten Tagen bis zu zwölf Stunden in diesen Containern auf ihre Registrierung, ohne Zugang zu Essen, Trinken und Decken.

Nachts am Ende der Welt

Vor allem nachts gleicht Moria "dem Ende der Welt", wie ein Eritreischer Flüchtling sagt. Es gibt weder Ärzte noch Übersetzer oder jegliches anderes Personal vor Ort, nur Bereitschaftspolizei. Das Gelände ist übersät mit Müll, es riecht nach verbranntem Plastik. Hier und dort haben Menschen Feuer gemacht, um sich zu wärmen und ihre nasse Kleidung zu trocknen. Überall liegen Schlafende, die sich mit Plastikplanen zudecken.

Menschen in Müllsäcken. Kälte und Obdachlosigkeit quälen hunderte Flüchtlinge in Moria.

Salinia Stroux

Menschen in Müllsächen in Moria.

"Wo sind hier die Menschenrechte?" fragt ein älterer Herr, der spärlich mit einem dünnen Pullover bekleidet ist und müde Plastikplanen und Müllsäcke hinter sich herschleift. Er zieht weiter, um seinen Sohn damit zuzudecken. Er selbst hockt sich still daneben und wacht über ihn.

Manche harren schon Tage aus. Familien schlafen mit ihren Kindern unter freiem Himmel. Sie trinken das Wasser aus den Leitungen der übelriechenden Toiletten. Zugedeckt mit klammen Kopftüchern ihrer Mütter schlafen Babies auf Sandboden oder Zement. Hier und da hört man die Kinder weinen oder husten.

Vier Kleinkinder noch in nasser Kleidung. Zwei Mütter, zwei Väter. Alle erkältet mit Fieber.

Salinia Stroux

Zwei Mütter, zwei Väter, vier Kleinkinder. Alle erkältet und mit Fieber

Fehlende Information, mehrere Warteschlangen

Die Menschen sind erschöpft und verzweifelt. Sie verstehen nicht, zu welchem Trakt sie müssen, um sich zu registrieren. Es gibt mehrere Schlangen. Die Polizisten geben widersprüchliche Informationen zur Verfahrensweise und den Registrierungszeiten, sodass sich keiner traut, die Schlange zu verlassen.

Väter und Mütter drängen sich verzweifelt durch die Massen zu den Eingängen der Registrierungstrakte und riskieren immer wieder Tränengasangriffe der Bereitschaftspolizei.

Salinia Stroux

In der Schlange für die Registrierung

Es herrscht Chaos. Je länger die Menschen warten, desto ungeduldiger werden sie. Sie weigern sich zu gehen, "Fuck off!", ruft ein Polizist den ausdauernden Menschen zu, die auch nach Androhung von Hieben keinen Schritt zurückweichen. Väter und Mütter heben ihre Kinder gen Sternenhimmel um durchgelassen zu werden. Doch die Polizisten folgen ihren Befehlen und machen keine Ausnahmen.

"Ich habe mein Kind verloren", kreischt Fatima, eine junge Afghanin, panisch. Der erschöpften Frau ist das Kopftuch verrutscht. "Wir standen seit Stunden an. Endlich hatten wir das Tor erreicht. Auf einmal gab es Gedrängel. Die Polizei setzte Tränengas ein. Ich hielt mein Baby auf dem Arm.“ Ihre dreijährige Tochter stand neben ihr und hielt ihre Hand. Plötzlich rannten alle los. "Ich spürte die Hand meiner Tochter nicht mehr. Irgendwer hob sie hoch. Ich weiß nicht mehr, wo sie ist", sagt Fatima. Sie verschwindet in der Menschentraube in die Richtung, aus der heute mehrfach Menschen vor den Hieben und dem Tränengas der Polizisten flohen. In den letzten Tagen sind mehrere Kleinkinder im Gedrängel von Massenpaniken verletzt worden.

Fliehen vor Tränengas und Schlägen der griechischen Polizei.

Salinia Stroux

Die Menschen kämpfen darum, schneller registriert zu werden. Während die beiden Premiers das Erstaufnahmelager in Nähe des Haupttors begutachten, werden keine hundert Meter weiter vor den Toren der übrigen Trakte Dutzende Flüchtlinge beim Versuch die Tore zu stürmen von der Bereitschaftspolizei verprügelt. Ein iranischer Mann wird mit zwei Platzwunden am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert. Ein Zeuge berichtet: "Sie schlugen brutal auf ihn ein. Er hatte richtig Löcher im Kopf." Eine junge Frau ist im Gedrängel zusammengebrochen und musste ärztlich versorgt werden. Ein junger Afghane wird mit einer Verletzung am Fuß unter Schock eingeliefert. Dutzende erreichen nie ein Krankenhaus.

Seit September wurden mehrere Fälle von Polizeigewalt gegen Flüchtlinge auf den Inseln der Ost-Ägais dokumentiert. Schon mehrfach haben in der Vergangenheit Internationale Menschenrechtsorganisationen Griechenland mehrfach kritisiert für die wiederholten Fälle von Willkür und Polizeigewalt, die ungestraft bleiben.

Schlange vor der Registrierung Nachts in Moria. Daneben auf einem Feld schlafen Frauen und Kinder auf Plastikplanen.

Salinia Stroux

Schlange für die Registrierung, daneben auf dem Feld schlafen Frauen auf Plastikplanen.

Trostlosigkeit

Einige Stunden später findet Fatima ihre Tochter wieder. Jetzt hockt sie wieder inmitten vieler anderer Frauen in der Schlange. Der Zementboden ist matschig und nass. Zwei Polizeibusse versperren den Zugang zur Registrierung. "Wir wären auf dem Weg hierher beinahe ertrunken. Jetzt wissen wir nicht, wie wir das hier überleben sollen. Seit drei Tagen versuchen wir zur Registrierung zu gelangen. Unsere Kinder können vor Kälte nicht schlafen“, sagt Fatima. Die Frauen weinen, weil sie ihren Kindern nichts zu essen geben können. Tag und Nacht stehen sie an.

"In der ersten Nacht bekamen wir so viel Tränengas ab, dass ich aufgab, um meine Kinder zu schützen. Wir schliefen ein paar Stunden auf einer Plastikplane hier auf dem Feld." Auch heute standen sie an, bis sie nach vorne gelangten. Dann hieß es auf einmal, die Familien müssten vor dem anderen Tor anstehen. “Jetzt sagen sie uns wieder, hier wären wir falsch und wir sollen gehen." Eine andere Afghanin hört ihrer Geschichte schwer seufzend zu und gibt ihr eine ihrer zwei Decken ab. Fatima beginnt still zu weinen und deckt die kleinen Körper ihrer zwei schlafenden Kinder zu, die erschöpft in ihren Armen hängen.

Eine Mutter liegt neben ihren zwei Kindern, die spärlich mit einer nassen Wolldecke bedeckt sind.

Salinia Stroux

Eine Mutter liegt neben ihren zwei Kindern, die spärlich mit einer nassen Wolldecke bedeckt sind.