Erstellt am: 6. 10. 2015 - 12:01 Uhr
Independent China
Vermutlich hat Helen Feng mehr Zuhörer als die ersten 10 Acts der aktuellen US-Indie-Charts zusammen. Feng, die in China geboren wurde, in den USA aufwuchs und vor 10 Jahren wieder zurück in ihr Heimatland gezogen ist, genießt in China einen ähnlichen Status wie Karen O im Amiland. Pop-Connoisseure kennen die ehemalige Punk-Sängerin und MTV-China-Moderatorin von Fatima Al Qadiris letztjährigem Album „Asiatisch“ und dem darauf enthaltenen Cover des Sinead O’Conner-Klassikers „Nothing Compares 2 U“. Helen Feng stimmte das von Prince geschriebene Klagelied in Mandarin an, was dem Song eine körperlose Sinnlichkeit verlieh, die eher an asiatische Geistergeschichten gemahnte als an westliche Torch-Songs.
Staatsakt
Mit der vor vier Jahren in Peking gegründeten Indie-Band Nova Heart beschreitet Helen Feng andere Wege. Die Musik verzichtet auf jegliches Lokalkolorit und somit auf den Weltmusikbonus, der kulturellen Brückenbau suggeriert, wo oft bloß banale Folklore oder Globalisierungsschmäh zu finden sind. Gesungen wird auf Englisch. Der Sound bedient sich aus dem Fundus meist europäischer Popmusik: Post-Punk, Trip-Hop, New-Wave, Krautrock und das ein oder andere Dance-Element. Die Songs des namenlosen Debüts funktionieren einerseits als Absacker in Räumen mit gedimmter Beleuchtung und Räucherstäbchen-Mikado, andererseits lassen sie sich live zu regelrechten Orkanen hochpeitschen. Wir haben Helen Feng in Berlin zum Interview über Nova Heart und Pop in China getroffen.
Christian Lehner: Ihr habt im Sommer erstmals beim Glastonbury Festival in England gespielt. Wie war das für euch?
Helen Feng: Es war nicht unser erstes Festival im Westen. Wir waren davor am Icelandic Airwaves, beim South By Southwest in den USA und kurz nach unserer Gründung vor vier Jahren am Waves Festival in Wien. Aber Glastonbury war natürlich huge.
Für Bands, die noch nicht so bekannt sind, ist das oft ein frustrierendes Erlebnis. Sie stehen am frühen Nachmittag auf der Bühne, oft vor einer Handvoll Trunkenbolde, die noch vom Vortag übrig geblieben sind. Wie war das bei euch?
Wir hatten einen guten Slot zwischen 17 und 18 Uhr. Das Publikum war massiv. Aber es war irrsinnig stressig für uns, weil wir eine Reifenpanne hatten und ich deshalb erst fünf Minuten vor der Stage-Time aufgetaucht bin. Ich hatte kein Make-Up aufgelegt, unsere Bühnenoutfits waren unauffindbar. Gott sei Dank war der Soundcheck schon am Nachmittag. Wir sind also einfach rauf und haben losgelegt. Da war wenig Zeit für Nervosität.
Und wie lief der Gig? Euer Sound ist ja eher so moody und mysteriös. Das Glastonbury-Publikum hingegen ...
Ich verletze mich oft, das hilft! (lacht). Die Shows sind tatsächlich sehr physisch. Ich hab mir schon mehrmals die Arme und Beine gebrochen. Blessuren gehören bei mir dazu. Sie kommen meist von misslungene Stagedives. Auch wenn man keine Mitgröl-Songs oder einfache Dance-Sachen im Repertoire hat, ist das Energielevel bei einem Live-Auftritt enorm. Diese Spannung muss einfach raus. Und dann passieren unvorhergesehene Dinge.
Gilt das auch für eure Studioproduktionen?
Für chinesische Verhältnisse ist unser Sound anrüchig und rebellisch. Pop boomt in China. Das meiste ist aber traniger Mainstream, der sich am Boy-Group-Modell oder K-Pop orientiert. Wir wollen diese Gewohnheiten herausfordern. Entweder man mag uns, oder man hasst uns. Leichte Unterhaltung ist nicht unser Ding. Damit betäubt man sich nur, damit flieht man vor persönlichen Problemen und den Problemen der Gesellschaft. Wir wollen aber kein weiteres Betäubungsmittel sein.
Was ist dein persönlicher Hintergrund?
Ich bin in China geboren, aber in den USA aufgewachsen. Vor 10 Jahren ist meine Familie wieder zurück nach China gegangen. Meine Eltern sind sehr liberal. Das war mein Glück, denn in China ist die Erziehung normalerweise sehr streng. Meine Mutter war also keine dieser berüchtigten „Tiger Moms“.
Christian Lehner
Wie war das für dich und deine Famile quasi zwischen den Welten?
Meine Eltern waren Studenten und sehr jung, als sie in die USA gekommen sind. Wir haben jahrelang Sozialhilfe empfangen und in einer geförderten Wohnung am Campus gelebt. Dann hat mein Vater eine Firma gegründet und wir sind in die wohlhabende Mittelklasse aufgestiegen. Wir zogen ständig um: von Chicago nach Massachusetts, dann in den Süden, wo alle unsere Nachbarn schwarz waren, dann nach Houston, wo es fast keine Schwarzen gab und schließlich weiter nach Kalifornien, wo die Bevölkerung sehr divers ist. Anfang der neunziger Jahre nahmen mich meine Eltern immer häufiger mit nach China. Es war kurz nach dem Massaker am Platz des Himmlischen Friedens. Das Land erlebte einen enormen Umbruch. Meine Eltern wollten, dass ich eine Verbindung entwickle, dass ich das alles sehe und natürlich, dass ich meine Verwandten kennenlerne. Ich fühle mich weder als Chinesin noch als Amerikanerin, sondern als jemand, der sehr viele verschiedene Eindrücke erlebt hat.
Wie wirkt sich das auf dein Songwriting aus?
Ich glaube, ich hänge einer romantischen, etwas verstaubten Vorstellung von Rock’n’Roll nach, die im Westen gar nicht mehr so existiert. In den USA sind die meisten Musiker mittlerweile nur noch mit dem Überleben beschäftigt. Wir alle kennen die Gründe und wissen, wie das Biz im Internetzeitalter funktioniert. Viele meiner Freunde verdienen weniger als ein Zeitungsverkäufer. Doch anstatt dagegen aufzubegehren, wird die Musik zunehmend angepasster.
Wie ist die Situation in China?
Ökonomisch super, kreativ nicht so. Pop wird immer größer, erreicht immer mehr Menschen, wird aber auch immer kommerzieller. Musik verkauft sich zwar kaum, nicht nur wegen dem Internet, sondern auch wegen der laschen Urheberrechtsbestimmungen, aber der Live-Sektor boomt. Es gibt über 150 größere Festivals pro Jahr. Selbst wir können vom Live-Geschäft ganz gut leben.
Wie hat sich die Szene verändert?
Von 2004 bis 2008 war das goldene Zeitalter des Underground. Da war sehr viel möglich, weil es wenig Strukturen und Kontrolle gab. Von den Autoritäten wusste niemand, was da wirklich läuft. Es war auch die Zeit, als Heavy Metal groß war. Mittlerweile ist das anders. Auch der Indie-Markt hat eine kommerzielle Wandlung durchlebt und ist in die Breite gegangen. Das hat auch Vorteile. Als ich nach meiner Rückkehr mit dem Musikmachen begann, waren im Publikum überwiegend Leute aus dem Westen und Mitglieder anderer Bands. Mittlerweile sind die größte Gruppe chinesische Kids. Das ist natürlich toll.
Wie sind die denn drauf, die chinesischen Kids bei deinen Konzerten?
Viel offener als früher. They really fan-out! Sie befinden sich in einer existenziellen Krise und halten sich damit nicht mehr zurück in der Öffentlichkeit. Aufgrund der Wirtschaftskrise unterscheiden sich ihre Probleme gar nicht mal so sehr von jenen der westlichen Kids. Sie stellen jedenfalls vieles in Frage. Es ist eine Mischung aus Zynismus und Hoffnung. Zynismus deshalb, weil sie realisieren, dass alles, was ihnen versprochen wurde, falsch ist. Und Hoffnung, weil sie daran glauben, dass sie dagegen etwas tun können. Ich muss sagen, dass ich sehr beeindruckt bin von Chinas junger Generation.
Was tut sich sonst noch im Pop?
Experimentelle Musik erfreut sich immer größerer Beliebtheit und natürlich auch Dance und elektronische Sachen. Da hapert es allerdings noch ein wenig mit den Skills. Nur weil man auf Ableton Live einige shitty Loops zusammenkleistert, macht das noch lange keinen guten Producer. Aber es wird viel herumprobiert und es gibt eine riesen DJ-Szene. Insgesamt wird die Popszene immer bunter und vielfältiger. Was den Live-Sektor betrifft, ist das Touren mittlerweile viel angenehmer als zum Beispiel im UK. Es gibt etablierte Routen und eine gut funktionierende Infrastruktur. Das läuft wie geschmiert.
Wie ist es um die künstlerische Freiheit und Zensur bestellt und wie sieht das in der alltäglichen Praxis aus?
Wie du siehst, habe ich bisher alle deine Fragen relativ offen beantwortet. Ich fürchte mich nicht vor Big Brother. Ich weiß, dass er ständig zuhört. Dass China allerdings das Böse schlechthin ist diesbezüglich, lässt sich spätestens seit Wikileaks und Snowden nicht mehr in dieser Form behaupten.
Wie ist das bei deinen Texten?
Die muss ich einer Zensurbehörde vorlegen. Da gibt es auch nichts zu beschönigen.
Dennoch hörte man von mehr Kritik in der Gesellschaft Chinas.
Das stimmt. Allerdings funktioniert das anders als im Westen. Im Westen spricht man viele Probleme direkt an. Du gehst auf eine Demo. Du schreibst einen Brief. Du protestierst. Die Medien haben stets einen aktuellen Aufmerksamkeitsfokus. Es ist sehr viel Lärm. Alle reden, aber kaum jemand hört zu. In China ist es umgekehrt. Wenn du zum Beispiel deine Eltern kritisierst, dann nennst du die Probleme nicht direkt beim Namen. Du malst vielmehr ein riesen Gemälde drumherum. Und diese Kritik wird dann auch angenommen, freilich ohne dass sie als solche anerkannt wird.
Staatsakt
Welche Rolle spielen Soziale Medien, die ja auch stark reglemtiert sind?
Abweichende Meinungen dürfen generell mehr und mehr existieren. Das hat sicher auch was mit dem Netz zu tun. Interessanterweise sind es nicht Gossip-Themen wie Miley Cyrus und Twerking, die die meisten Passes auf Weibo, dem „Chinessischen Twitter“ bekommen, sondern Politik – meist auf lokaler Ebene. Die Regierung kontrolliert das natürlich und wenn etwas aufkocht, wird der Thread nach einigen Stunden offline genommen. Aber nach zwei oder drei Tagen, wie aus dem Nichts, kommt dann plötzlich eine Reaktion und die Behörden nehmen sich des Problems an.
Und das funktioniert?
Nicht immer, aber oft. Da war zum Beispiel dieses schreckliche Zugsunglück mit vielen Toten. Ein moderner Hochgeschwindigkeitszug crashte aufgrund eines schlechten Monitoring-Systems, das mit Hilfe von Korruption installiert wurde. Zunächst wollte man die Ursachen vertuschen. Doch die Reaktionen im Netz waren so massiv, dass innerhalb weniger Tage die Schuldigen zur Verantwortung gezogen und die Gesetze geändert wurden, ohne auf die Kritik direkt einzugehen. Im Westen hätte das wohl Jahre gebraucht.
Hat sich deine Art des Schreibens in China verändert?
Ich musste mich natürlich daran gewöhnen, wie man hier kommuniziert. Ich habe realisiert, dass es nichts bringt, wie ein Laser auf einen Punkt zu zielen. Man muss vielmehr die Herde durch einen Klotz hier und einen Klotz da in eine bestimmte Richtung leiten. Dann verliert niemand sein Gesicht. Was ich mit meiner Musik direkt beeinflussen kann, ist, wie Menschen über Musik und Kunst denken.
Abschließend die Frage: Was ist deiner Meinung nach das größte Missverständnis des Westens in Bezug auf China?
Die Furcht vor China! Man sollte unserem Land helfen, zu sich zu kommen. Das ist viel besser, als es zu fürchten. China stellt sich gerade in Frage. Helfen wir diese Fragen zu beantworten anstatt Feindbilder zu produzieren.