Erstellt am: 4. 10. 2015 - 06:00 Uhr
Weil Fetzen nicht gleich Fetzen sind
Zunächst bin ich skeptisch, als mir Kollegin Z. mit den Worten "Ich hab da ein super Modebuch für dich, magst du das rezensieren?", auf den Schreibtisch legt. Ich bin kein großer Fan davon. New-York-Times-Bestseller hin oder her. Entweder schreiben stinkreiche Fashionistas über ihr schickes Leben, welches sie voll und ganz der Mode widmen, global bekannte Designer erklären ihr Modeuniversum oder es äußern sich renommierte Professorinnen wie etwa Barbara Vinken in ihrem Buch "Angezogen" über "Das Geheimnis der Mode". Sehr fundiert, aber auch sehr theoretisch.
It's not a style-bible
Viele Buchveröffentlichungen zu dem Thema sind mir de facto zu aufgebauscht, zu konstruiert, zu sehr bezogen auf das Modebusiness, die meine - mittels Star-BloggerInnen, Streetstyle-Fotografen und hippen Chef-Einkäufern - konsumgeilen Synapsen aktivieren möchten. Beim Wort style-bible wird mir übel. Da gebe ich mir lieber gleich mittels Modemagazinen die volle Dröhnung, während ich in der Badewanne liege und mit nassen Schaum-Fingern die 3.000-Euro-Handtaschen überblättere. Trotzdem nehme ich das Buch übers Wochenende mit und verspreche reinzulesen, weil ich Kollegin Z. halt mag.
S. Fischer Verlag
Bereits am Samstag zu Mittag weiß ich, dass ich das Buch auf jeden Fall besprechen möchte. Es ist schlichtweg super - weil originell, ehrlich und authentisch. Es handelt von Mode und Identität – zwei Dinge, die unausweichlich miteinander in Verbindung stehen. Leanne Shapton, Sheila Heti und Heidi Julavits heißen die drei Autorinnen des gemeinsamen Buchprojekts "Women in Clothes - Frauen und Kleider. Was wir tragen, was wir sind" (S. Fischer Verlag). Sie wollten herausfinden, warum Frauen anziehen, was sie anziehen. So simple, so gut.
Viele Fragen, ehrliche Antworten
500 Frauen wurden befragt. Ganz pragmatisch via Fragebogen*. Dank Social Media, Google-doc-sharing und Skype ging das auch weltweit ganz leicht. Die Liste der Fragen erweiterte sich ständig. Hunderte Frauen aller Nationalitäten erzählen, was Kleidung für sie bedeutet, wie sie sich selbst beim Anziehen erfinden, was sie ausdrücken möchten. Klar, darunter sind auch große Namen wie Lena Dunham, Miranda July, Kim Gordon, Cindy Sherman. Der Großteil der Befragten sind jedoch ganz normale Frauen. Mit gemäßigtem Budget und Jobs, die mit dem Fashionbusiness nichts zu tun haben.
"Warum der alte, übergroße Mantel, warum der rote Angora-Pullover, warum die silbernen Doc Martens? Welchen Einfluss haben Freundinnen, Männer, verflossene Lieben und der Kleiderschrank der Mutter? Welche Rituale gibt es beim Anziehen, mit welchen Kleidern hüllt man sich in eine neue Identität?"
Die Antworten auf diese Fragen sind manchmal skurril, oft amüsant, immer spannend. Fotos der befragten Frauen findet man im Buch nicht, auch keine Altersangabe, lediglich den Namen.
Ausstellungskatalog statt Hochglanzmagazin
Die visuelle Handschrift des Buches stammt von Leanne Shapton. Sie ist Mitbegründerin von J & L Books, einem Non-Profit-Verlag für neue Fotografie, Kunst und Literatur. Das erklärt vielleicht, warum das Buch mehr einem Ausstellungskatalog denn einem Hochglanzbuch über Mode ähnelt. Gezeigt werden Einblicke in Kleiderschränke, präsentiert wie Ausstellungsstücke:
- 16 mittelhohe Vintage-Schuhe einer Molly Murray
- 13 Nagellacke von Sheila Hetis
- 14 Strumpfhosen von Kim Bost, Produktdesignerin aus Brooklyn
- 12 Overknee-Strümpfe einer Luise Stauss
- 8 weiße Nachthemden von Schriftstellerin Aria Sloss
- 6 Illustrationen von Kett- und Schussfäden in Textilien
- 6 Fremde, die die jeweiligen Lieblingsoutfits der anderen tragen
- viele verschiedene Flecken auf Frauenkleidung - Mascara auf Kissenbezug oder Fahrradöl an Sweatshirt-Bündchen
S. Fischer Verlag
Sheila Heti und Heidi Julavits, die beiden anderen Autorinnen, sind ebenfalls Profis in ihrem Métier. Heti veröffentlichte das Buch "Wie sollten wir sein?", das 2012 eines der meistdiskutierten Bücher in den USA war. Julavits hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, ist Mitherausgeberin des Magazins "Believer" und unterrichtet an der Columbia University. Die Autorinnen sind erfolgreiche Frauen mit Grips, keine oberflächlichen Modepüppchen.
S. Fischer Verlag
Leanne: "Ich stürzte mich in die Welt der Modemagazine, die ich regelmäßig las und deren Sprache von Anzeigenkampagnen, Hype und Begeisterung ich aufsaugte. Ständig ging es in überschwänglichen Tönen um Mode und Stil, um Schönheit und um Macht. Aber ich fand, nur die wenigstens sahen wirklich gut aus."
Sheila: "Etwas, das mich an Modezeitschriften stört, ist, dass sie Frauen dazu ermutigen, andere Frauen zu kopieren. Zwar glaube ich, dass Männer gern andere Männer kopieren (…), aber ich habe das Gefühl, bei Frauen ist es genau umgekehrt. Die unwiderstehlichsten Frauen sind die, die herausfallen, die am meisten sie selbst sind und am wenigstens wie andere Frauen. Es gibt nur eine Marilyn Monroe. Es gibt nur eine Anaïs Nin. So ikonenhaft und unnachahmlich wie sie zu sein wäre auf jeden Fall besser, als wie sie zu sein. Es ist fast so, als würden Modezeitschriften nicht verstehen, was Frauen wollen. Ich glaube, Frauen wollen einzigartig sein – ein Wesen, das anders ist als alle anderen."
Heidi: "Auf der Straße drehe ich mich nicht nach Männern um. Ich drehe mich nach Frauen um. Ich drehe mich nach Frauen um, weil ich Geschichten liebe, und Frauen in Kleidern erzählen Geschichten. Jahrelang habe ich andere Frauen beobachtet, um herauszufinden, wie auch ich eines Tages eine Frau mit einer Geschichte sein könnte."
Warum funktioniert das Buch?
Es ist eine Liebeserklärung an die emotionale Sprache, die Kleider sprechen. Für alle, die im Leben und im Kleiderschrank nach Möglichkeiten suchen, sich auszudrücken. Übrigens egal, ob man eine Frau ist oder ein Mann. Ich habe "Women in Clothes" übrigens in der Badewanne gelesen.
*Auszug aus dem Fragebogen:
- Welche Unterhaltung über Mode oder Stil hat dich verändert?
- Mit wem redest du über Kleider?
- Glaubst du, du hast Geschmack oder Stil? Was ist dir wichtiger? Was verstehst du darunter?
- Gibt es andere Bereiche als Mode, in denen du Stil hast?
- Gibt es einen einheitlichen Ansatz, mit dem du an deinen Alltag, deine Arbeit, Beziehungen, Aufgaben etc. herangehst?
- Würdest du sagen, in Bezug auf Mode und Kleider 'weißt du, was dir gefällt'?
- Kannst du etwas dazu sagen, inwiefern deine Figur und dein Stil mit deiner Mutter zu tun haben, oder auch nicht?
- Welchen kulturellen Hintergrund hast du, und wie beeinflusst er deinen Kleidungsstil?
- Hast du von deinen Eltern etwas über Kleider, Anziehen und Stil gelernt? Woran erinnerst du dich konkret? Haben sie dir diese Dinge beigebracht, oder hast du sie dir abgeschaut?
- Was tust du in Sachen Kleidung, Make-up oder Haar, um dich sexy oder verführerisch zu fühlen?
- Was bewunderst du an der Art, wie andere Frauen auftreten?"