Erstellt am: 1. 10. 2015 - 13:31 Uhr
„Mein Kampf“ als Theaterstück
Zwei Frauen und vier Männer stehen vor der Rückseite eines Bücherregals und erzählen von ihren Erfahrungen mit „Mein Kampf“: Eine junge Juristin, die am Gutachten zur Neuveröffentlichung mitarbeitete, ein Israeli, der es am Strand von Tel Aviv mit deutschen Touristinnen las und ein deutsch-türkischer Rapper, der wegen Volksverhetzung angezeigt wurde.
Sie sind im Stück sogenannte Experten des Alltags. Gemeinsam mit ihnen nähert sich das Publikum dem historischen Dokument an, das seine Symbolkraft bis heute vor allem daraus schöpft, dass Hitler fast alles, was er schriftlich ankündigte, auch in die grausame Tat umgesetzt hat.
- Das Stück läuft heute, morgen und übermorgen um 19.30 im Schauspielhaus Graz.
Rimini Protokoll
„Mein Kampf“ ist nicht gleich „Mein Kampf“
„Mein Kampf“ erschien ursprünglich in zwei Bänden und enthält biographisches und parteigeschichtliches Material sowie die gesamte NS-Ideologie des Judenhasses. Der Krieg um mehr Lebensraum für das „deutsche Herrenvolk“ ist darin weitgehend vorweggenommen.
Zwischen 1925 und 1945 wurde der Text in verschiedenen Versionen etwa 12,5 Millionen Mal unters Volk gebracht. Neben der Dünndruckausgabe für die Wehrmacht fand die einbändige Volksausgabe 1933 mit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und später nochmals bei Kriegsausbruch 1938 die weiteste Verbreitung. Allein 1933 wurden fast eine Million Exemplare verkauft. Angesichts dieser Zahlen ließ der nationalsozialistische Eher-Verlag weitere Auflagen drucken. Doch als der Absatz stockte und man fürchtete, auf der Überproduktion sitzen zu bleiben, beschloss die NSDAP, das Buch bei Hochzeiten an Brautpaare auszuhändigen.
Es wurde in etliche Sprachen übersetzt, ist in Antiquariaten problemlos aufzutreiben und steht nach wie vor in den Bücherregalen, Kellern oder Dachböden vieler Haushalte. Im Internet ist der Text mit wenigen Klicks abrufbar.
Rimini Protokoll ist das Label für Theater-, Performance- und Hörspiel-Projekte von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Das deutsch-schweizerische Autoren- und Regieteam macht dokumentarisches bzw. postdramatisches Theater, d.h. sie arbeiten meist mit LaiendarstellerInnen und nehmen Bezug auf gesellschaftliche Ereignisse und politische Diskurse. Frühere Arbeiten sind z.B. "Paymannbeschimpfung", "Karl Marx: Das Kapital, Erster Band" oder ein Stück zur Welt-Klimakonferenz 2014.
Candy Welz
Während nun also die DarstellerInnen auf der Bühne die verschiedenen Editionen aufeinanderstapeln, produziert der umstrittene Musikproduzent Volkan T. Error den Soundtrack dazu. Klingt „Mein Kampf“ eher nach brummendem Maikäfer oder nach schrillem Gescratche? Es macht sich jedenfalls nicht schlecht, Hitlers Stimme über die Bassline grölen zu lassen.
Candy Welz
Mystifizierung nutzt nur dem Rechtsradikalismus
Eine Mystifizierung sowohl des Textes als auch der Person Hitlers sei jedenfalls zu vermeiden, sagt Daniel Wetzel. Er führt bei der Bühnenversion von „Mein Kampf“ gemeinsam mit Helgard Haug Regie.
„Die Vorstellung, das Buch könne seine Leser infizieren, ist eine negative Aufladung, die dem Rechtsradikalismus eher nutzt, weil sie eine Art Dark Force impliziert, die einem aus dem Buch entgegenwallen könne. Dieser Albernheit muss man wirklich entgegentreten. Andererseits war der Text natürlich Teil dieses riesigen verbrecherischen Systems. Daher muss man mit Auslaufen der Urheberrechte auch die Sorge verstehen, das Buch könnte als eines unter vielen behandelt werden.“
Eine kritische Auseinandersetzung mit Hitlers Worten sei heute notwendiger denn je, meint Wetzel. Die Terminologie aus „Mein Kampf“ sei im Rechtspopulismus teilweise nach wie vor gebräuchlich. Auf der Bühne wird daher Begriffen wie „Sozialschmarotzer“ oder „Lügenpresse“ nachgespürt. Falsche Behauptungen von Hitler werden widerlegt.
Die persönlichen Anekdoten der DarstellerInnen werden zudem durch historische und kuriose Fakten ergänzt. Wer hätte z.B. gedacht, dass es eine Studienausgabe von „Mein Kampf“ auf Hebräisch gibt? Dagegen überrascht die japanische Manga-Version, die zwischendurch auf die Bühne projiziert wird, kaum.
„Mein Kampf“ neu aufgelegt
Ende 2015, also 70 Jahre nach Hitlers Tod, laufen die Urheberrechte für „Mein Kampf“ aus. Die alliierten Mächte übertrugen sie nach Kriegsende vom NSDAP-Parteiverlag an den Freistaat Bayern. Dieser hat seither Neuveröffentlichungen verboten und geht Urheberrechtsverletzungen auch im Ausland nach. Ab 2016 ist das Buch allerdings Gemeingut und darf - zumindest aus rein urheberrechtlicher Sicht - wieder gedruckt werden.
Wie in Österreich und Deutschland mit dem Text nach Jahresende umgegangen werden soll, ist die zentrale Frage im Stück. Juristisch gesehen ist ein Neudruck 70 Jahre nach dem Tod des Autors zwar erlaubt, allerdings könnte die Verbreitung von „Mein Kampf“ den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen. Hier komme es allerdings auch auf den Kontext der Veröffentlichung an. Die Gerichte werden damit noch einiges zu tun haben.
Denn das Institut für Zeitgeschichte, IfZ, in München will schon im Jänner 2016 eine wissenschaftlich kommentierte Edition veröffentlichen. Das Projekt versteht sich als „Beitrag zur historisch-politischen Aufklärung“. „Es gilt“, heißt es auf der IfZ-Website, „Hitler und seine Propaganda nachhaltig zu dekonstruieren und damit der nach wie vor wirksamen Symbolkraft dieses Buchs den Boden zu entziehen“.
Das Stück von Rimini Protokoll ist ein guter Anstoß zur Debatte, die damit auf uns zukommt.