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Claus Pirschner

Politik im weitesten Sinne, Queer/Gender/Diversity, Sport und Sonstiges.

29. 9. 2015 - 14:59

Mehr Respekt auf der Flucht

Ein Lokalaugenschein am griechischen Grenzübergang Idomeni. Dort gibt es endlich eine akzeptable Erstversorgung für Flüchtlinge.

Heute 21 Uhr

FM4 Auf Laut - live aus Thessaloniki:
Die europäische Flüchtlingskrise aus griechischer Perspektive

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Das kleine griechische Dorf Idomeni, eine Autostunde von Thessaloniki entfernt, liegt auf der Fluchtroute, auf der täglich an die 6.000 Schutzsuchende den Weg weiter nach FYROM (Mazedonien),und von dort in die EU antreten. Bis vor kurzem wurden die Flüchtlinge hier weitgehend sich selbst überlassen, mussten zum Beispiel auf Bahngleisen warten, bis sie weiterdurften. Kamen über die Felder, ohne Schutz vor Hitze, Regen und nun aufkommender Kälte. Als Mazedonien im Sommer zeitweise die Grenze dicht machte, ist die Lage eskaliert

FM4 Auf Laut
    Griechenland

    Claus Pirschner / Radio FM4

    Cornelia Krebs war für Ö1in Idomeni

    Chrissi Wilkens hat Ende August für FM4 berichtet

    Nun gibt es Hilfe vor Ort. Seit einer Woche stehen Zelte, die den Flüchtlingen beim Warten und Ausrasten Schutz bieten. Die Flüchtenden kommen meist mit Bussen aus Athen nach Idomeni. Hilfsorganisationen und private HelferInnen versorgen sie mit dem Nötigsten wie Essen, Trinken und Bekleidung und bieten medizinische Betreuung. Obwohl die Situation in Griechenland angespannt ist - allein auf der kleinen Insel Lesbos kommen täglich 4.000 Flüchtlinge an - erzählt mir eine Gruppe von Flüchtlingen in Idomeni, dass sie weitgehend schnell und ohne Probleme weiterreisen konnten.

    Griechenland

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    Panagiotis Anapalis ist Sonderpädagogiklehrer aus Thessaloniki. Er ist letzte Woche mehrmals nach Idomeni gefahren und hat bei der Organisation Arsis mitgeholfen, die sich hier um Kinder und Jugendliche kümmert. "Ich gebe ihnen Decken und spiele mit ihnen, oft nur ein paar Minuten. Die meisten Flüchtlinge rasten sich hier nur kurz aus und wollen bald weiterreisen. Ich erfahre kaum, wie es ihnen wirklich geht, denn es bleibt wenig Zeit." Panagiotis selbst ist seit Juni arbeitslos – wegen der wirtschaftlichen Krise und der von den internationalen Kreditgebern auferlegten, massiv kritisierten Sparprogramme in Griechenland. Der Staat kann derzeit keine SonderpädagogiklehrerInnen bezahlen. Hier in Idomeni ist Panagiotis einer von denen, die den geflüchteten Menschen wieder geben, was ihnen im Krieg und auf der Flucht genommen wurde: respektvollen Umgang.

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    Lebensgefährliche Fluchtroute

    "In Griechenland ging es bisher gut", erzählt der 18-jährige Montasa aus Syrien. Er ist mit Freunden gemeinsam geflüchtet, seine Eltern sind zu alt, sodass er sie nicht mitnehmen konnte. Die schlimmsten Erlebnisse haben sie in der Türkei gemacht, berichten er und andere aus seiner Gruppe. Nach einem 70-Stunden-Marsch durch die Wüste wären manche von ihnen von türkischen Polizisten oder Soldaten geschlagen, beraubt und tagelang eingesperrt worden. Man hätte auch auf sie geschossen, ein Mann zeigt mir Verletzungen. Dann haben sie es über eine andere Route nach Griechenland geschafft.

    "Wir werden geschlagen, man kommandiert uns herum. Sind wir keine Menschen? Wir wollen einfach human behandelt werden", sagt der der 31-jährige Mohammed, ein Englischlehrer aus Syrien. Einige von ihnen waren jahrelang als Flüchtlinge in Jordanien. Dort durften sie nicht weiterstudieren, aber auch nicht arbeiten.Wer in Jordanien beim Arbeiten erwischt wird, wird nach Syrien deportiert, sagt Mohammed. Einer der lebensgefährlichsten Teile ihrer Flucht war die Überquerung des Meeres zwischen der Türkei und Griechenland. Mohammed erzählt, dass er und alle anderen die Fahrt mit im überfüllten Schlauchboot überlebt haben. Ein Mann neben ihm fügt hinzu, dass er von einem Militärschiff aus beschossen wurde und zeigt mir die Verletzungen am Bein davon.

    UNHCR in Idomeni: "Sicherer Übergang"

    Seit über einem Monat ist auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR vor Ort: "Unser Hauptanliegen ist, einen würdevollen Umgang mit Flüchtlingen zu sichern und dass sie hier angemessen versorgt werden", sagt Luca Guanziroli, Teamleiter des UNHCR in Idomeni. Von hier aus gehen die Flüchtlinge 5 Kilometer zu Fuß nach Mazedonien. Dort geht es meist für 25 Euro mit Zügen zur serbischen Grenze weiter. Wie ist es um ihre Sicherheit in Mazedonien bestellt - es heißt, dass die Mafia sie dort ausraubt? "Ja, das ist eine ernste Sache. Seitdem die Grenze hier aber offen ist, glaube ich, sind organisiertes Verbrechen und Schmuggler mehr in den Norden Mazedoniens (ANM: zur Grenze mit Serbien) abgewandert", meint Guanziroli.

    Griechenland

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    Flipchart im UNHCR-Container: Anzahl der Flüchtlinge, die seit 20. September pro Tag den Grenzübergang passiert haben.

    Wie sieht er aus der Perspektive seiner Arbeit in Idomeni die Entscheidung der EU nun 120.000 Flüchtlinge in Europa aufzuteilen? "Ich bin hier etwas weit weg von diesen politischen Entscheidungen. Ich bemerke, dass sie Wochen um Wochen über diese 120.000 Flüchtlinge verhandelt haben, während hier innerhalb von 20 Tagen 120.000 Refugees die Grenze überquert haben. Also ja, wir brauchen eine schnelle Entscheidung, aber auch einen weiterführenden Plan."

    In Idomeni werden Flüchtlinge nun zwar respektvoller empfangen und auf der Durchreise versorgt. Ihre Würde und Sicherheit mag zumindest hier im hier eingerichteten Zeltversorgungszentrum gewährleistet sein. Sie endet aber schon wenige Meter nach der Versorgungsstelle, auf dem Weg nach Mazedonien und weiter in die EU. Wo und wie sie durchkommen und welcher Staat sie überhaupt ankommen lässt, kann keiner voraussagen. In Europa fehlt - mit wenigen Ausnahmen wie Deutschland - trotz geltender menschenrechtlicher Verpflichtungen weitgehend eine offizielle, substanzielle Willkommenskultur für Flüchtlinge.

    Griechenland

    Claus Pirschner / Radio FM4

    Flüchtlinge können hier ihre Handys aufladen - ihr wichtigstes Kommunikationsmittel auf der Flucht, um in Kontakt zu bleiben, um über mögliche Routen auf dem aktuellen Stand zu sein

    Heute abend

    FM4 Auf Laut - live aus Thessaloniki:
    Die europäische Flüchtlingskrise aus griechischer Perspektive

    350.000 Flüchtlinge sind heuer in Griechenland unter lebensbedrohlichen Bedingungen vor allem über den Seeweg angekommen. In der Türkei wollen noch viele vor dem Wintereinbruch in Gummibooten nach Griechenland gelangen. Die Europäische Union hat sich gerade mit Ach und Krach auf die Verteilung von 120.000 Flüchtlingen geeinigt. Die Zustände in den Aufnahmelagern in Griechenland sind katastrophal. Was wir in Österreich seit ein paar Wochen kennen, ist in Griechenland seit Jahren Alltag: überforderte Behörden und BürgerInnen, die ehrenamtlich einspringen. Wie gehen Gesellschaft und Politik in Hellas mit der Flüchtlingskrise um? Wie sehen europäische Lösungen aus griechischer Perspektive aus? Was bringen sogenannte neue europäische Hotspots in Griechenland und reicht eine Milliarde Euro Flüchtlingshilfe extra für Syriens Nachbarländer?

    Claus Pirschner diskutiert darüber live in Thessaloniki mit lokalen Flüchtlingshelfern, mit TV Anchorwoman Christina Siganidou und mit FM4 Griechenland-Korrespondentin Chrissi Wilkens.